Corona in Russland: Viele Tote tauchen in offizieller Statistik nicht auf

Was sagen die offiziellen Zahlen über die Corona-Pandemie in Russland aus?
"Ungewöhnlich" nannte unlängst Mike Ryan, WHO-Exekutivdirektor für Notfallprogramme, die Corona-Statistiken aus Russland. Ungewöhnlich deshalb, weil die Zahl der Todesfälle, die von der Regierung angegeben wird, auffällig niedrig ist im Vergleich zu anderen Ländern. Knapp 8400 Tote meldete die russische Regierung zuletzt. Deutschland liegt aktuell bei knapp 8900, hat aber 43 Prozent weniger Einwohner.
Doch es gibt Zweifel an den russischen Daten. Die Hauptstadt Moskau, das Epizentrum der Coronakrise in Russland, hat gerade eine neue Statistik der Sterbefälle veröffentlicht. Demnach wurden im Mai 2020 in der Metropole insgesamt 15.700 Todesfälle registriert – normalerweise liegt dieser Wert bei etwa 10.000. Woran sind die überzähligen 5700 Moskauerinnen und Moskauer gestorben? Ist die Corona-Pandemie die Ursache?
Verfolgt man die täglichen Meldungen auf der Corona-Seite der Regierung, fällt auf, dass sich die Zahl der Covid-19-Toten in Moskau im Mai jedoch höchstens um 2000 erhöht hat.
Warum unterscheiden sich die Angaben so sehr? Unterschlagen russische Behörden Corona-Tote? Verschleiern sie das Ausmaß der Pandemie, um besser dazustehen, auch im weltweiten Vergleich?
Eine Antwort ist: In Russland ist der Corona-Tod Definitionssache.
Standardmäßig werden in dem Land nahezu alle Verstorbenen obduziert, also auch jene mit Verdacht auf Coronavirus. Streng wird dabei unterschieden: War Covid-19 Hauptursache für den Tod? Oder starb der Mensch an einer anderen Krankheit, war zugleich aber auch mit Corona infiziert?
Andere Statistiken nach Medienberichten
Im Unterschied zu den meisten anderen Ländern publizierte Russland bislang nur die Todeszahlen aus Kategorie eins – gestorben an Corona. Immerhin hat sich das jetzt geändert. Zuerst veröffentlichte die Stadt Moskau eine detaillierte Aufstellung aller Corona-Toten, egal, ob sie an oder mit Covid-19 gestorben sind.
Und nun hat Rosstat, die staatliche Statistikbehörde Russlands, nachgelegt und diese Zahlen für alle Regionen Russlands veröffentlicht. Im April starben demnach landesweit 1660 Menschen am Coronavirus – und weitere 1052 mit einer Infektion.
Die Behörden reagierten allerdings erst, nachdem russische und internationale Medien über den Widerspruch zwischen den veröffentlichten niedrigen Corona-Todesfällen und dem Anstieg der Gesamtsterblichkeit berichtet hatten.
Englischsprachigen Zeitungen wurde von Duma-Abgeordneten deshalb sogar mit dem Entzug der Akkreditierung gedroht. Von einer "Desinformationskampagne" und dem Versuch, "die Lage zu destabilisieren", sprach das Außenministerium.
Die heftigen Reaktionen machen deutlich, wie brisant russische Offizielle die Höhe der Anzahl der Corona-Toten einschätzen. Unter keinen Umständen soll der Eindruck entstehen, man habe die Lage nicht in Griff. Präsident Wladimir Putin hob zuletzt im Staatsfernsehen die "minimalen Verluste" in der Corona-Pandemie hervor – im Vergleich zu den USA mit über 120.000 Todesfällen.
Die Übersterblichkeit in Moskau und der zweitgrößten Stadt Sankt Petersburg ist tatsächlich kaum mit Zahlen aus New York City oder Madrid vergleichbar, wie die folgende Grafik zeigt. Doch makellos ist Russlands bisherige Corona-Bilanz nicht. Bei der Übersterblichkeit liegt Moskau beispielsweise klar vor Bayern, dem deutschen Bundesland, das mit am stärksten von Corona betroffen war.
Wie unterschiedlich Russlands lokale Behörden Corona-Daten erfassen, zeigt der Blick in die Statistik der Todeszahlen, die Rosstat für die 85 Regionen, inklusive annektierter Krim, veröffentlicht hat. Der SPIEGEL hat sie ausgewertet.
In Nischnij Nowgorod, einem Oblast östlich von Moskau, sollen den Daten zufolge im April nicht mal ein Drittel aller Corona-Toten ursächlich am Virus gestorben sein, der Rest gilt als "mit Corona verstorben". In Moskau und Sankt Petersburg lag der Anteil der an Corona Verstorbenen bei rund 50 Prozent.
Im Gebiet Moskau und den Kaukasus-Republiken Inguschetien und Dagestan wurde die Kategorie "mit Corona gestorben" hingegen kaum genutzt – dort betrug der Anteil "an Corona gestorben" mindestens 90 Prozent aller Corona-Toten.
Die Dynamik der Pandemie ist in dem riesigen Land – ähnlich wie in den USA -, regional sehr verschieden. Manche Regionen haben den Höhepunkt der Infektionen bereits überschritten, in anderen steht er noch bevor.
Dies belegen auch die Zahlen der täglich Neuinfizierten, die im Mai mit 11.600 Fällen ihren bisherigen Höhepunkt erreichten und aktuell bei unter 8000 liegen. Russland testet viel mehr als andere Länder und kommt bisher auf 17,5 Millionen Tests, davon fielen knapp 600.000 positiv auf. Deutschland dagegen meldete über 5 Millionen Tests, davon zeigten 192.000 eine Infektion an.
Folgende Heatmap zeigt die Anzahl der täglich gemeldeten Neuinfektionen in ausgewählten Regionen seit Anfang März. Zum Vergleich sind unten vier Länder wie Deutschland und Italien eingefügt. Blau steht für sehr niedrige Zahlen täglich Neuinfizierter, Rot für die bislang erreichten Höchstwerte der täglichen Fälle – und Weiß für mittlere Zahlen.
Das Virus erreichte Russland einige Wochen später als Italien, Spanien oder Deutschland, sofern die offiziell gemeldeten Infiziertenzahlen das tatsächliche Geschehen richtig widerspiegeln. Demnach breitete sich das Virus zuerst in der Hauptstadt, in Sankt Petersburg und im Kaukasus im Süden aus – hier am Beispiel Inguschetien zu sehen.
Moskau hat die erste Infektionswelle bereits hinter sich – in der Heatmap gut erkennbar an der weißen und hellblauen Färbung seit Ende Mai. In Sankt Petersburg dagegen sieht es nicht so gut aus, weil die Zahl der Infektionen zwar sinkt, aber deutlich langsamer als in der Hauptstadt. Die Behörden bekommen die Pandemie nur schwer in den Griff. Anfangs berichteten Ärzte und Patienten über zu wenig Schutzkleidung und Medikamente, nun steht das schlechte Management der Krankenhäuser im Fokus der Kritik. Zudem fehlen Mediziner. Trotzdem hat der zuständige Gouverneur die Restriktionen gelockert. Sankt Petersburg meldet nach Moskau landesweit die höchsten Todeszahlen pro 100.000 Einwohner.
Viele andere Regionen wie die Oblaste Nowosibirsk und Swerdlowsk stehen noch am Anfang der Infektionswelle oder mittendrin – wie die sichtbar rote Färbung auf der rechten Seite zeigt.
Zugleich hat die Mehrheit der Regionen Russlands nach Willen des Kremls die Ausgangssperren abgeschafft und Einschränkungen beschlossen – womöglich zu früh.
Pro 100.000 Einwohner sind in Russland bislang offiziell fünf Menschen an Covid-19 gestorben. Berücksichtigt man die neuen Zahlen von Rosstat und zählt somit auch jene mit, die mit der Infektion gestorben sind, könnte die Zahl durchaus doppelt so groß sein. Russland läge damit aktuell gleichauf mit Deutschland.
Die Gesamtzahl der Toten wird in Russland in den kommenden Wochen noch weiter deutlich steigen. Aktuell kommen jeden Tag durchschnittlich etwa 150 neu dazu – siehe folgende Grafik.
Aber ist diesen Zahlen generell zu trauen?
Verschiedene russische Medien berichteten von Pathologen, die von Krankenhausverwaltungen und Gesundheitsbehörden unter Druck gesetzt wurden. Die Ärzte mussten andere Krankheiten wie Krebs, Herzinfarkt, bakterielle Lungenentzündung oder chronische Erkrankungen als Todesursache angeben. So dürfte der eine oder andere Totenschein nicht ganz dem entsprechen, was bei der Obduktion herausgekommen ist.
Besser dastehen zu wollen gegenüber den Behörden weiter oben, ist auch heute in Russland noch gang und gäbe. In der Republik Komi im Nordwesten des Landes und in der Region Baschkortostan im Süden des Urals am südlichen Rand Russlands zum Beispiel meldeten Chefärzte von Kliniken und Beamte der Gesundheitsbehörden lange, alles sei unter Kontrolle. Dabei stieg die Zahl der Patienten und später der Toten mit Lungenentzündungen, das typische Krankheitsbild von Covid-19. In einer Umfrage im Internet gaben 60 Prozent der teilnehmenden Ärzte an, den Corona-Statistiken nicht zu glauben.
Über die Plausibilität der russischen Corona-Zahlen wird in Internetforen viel diskutiert und spekuliert:
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Darüber, dass etwa einige Regionen mehrere Tage hintereinander exakt die gleichen Infektionszahlen meldeten;
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in der Region Altai in Südsibirien Zahlen an den Gouverneur mit dem Zusatz "zur Freigabe" versehen waren, der Vermerk schnell entfernt wurde, als dies in sozialen Netzwerken thematisiert wurde;
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Angaben der verschiedenen Behörden sich unterscheiden, gemeldete Todeszahlen mancherorts sehr schwanken. Auf Facebook kursiert eine Karte, auf der die Regionen je nach Glaubwürdigkeit der Corona-Daten eingefärbt sind. Nach Analysen eines Mathematikers sind die Angaben in gerade einmal 30 Gebieten ohne Auffälligkeiten.
Melden von Verstorbenen, Vertrauen in die Behörden
Probleme bereitet auch das extreme Gefälle zwischen Stadt und Land. In Dagestan im Nordkaukasus beispielsweise ist die Statistik kaum plausibel. Mitte Mai sorgte der Gesundheitsminister der Region für Aufsehen, weil er angegeben hatte, dass etwa 660 Menschen an beidseitiger Lungenentzündung gestorben seien. Damals lag die offizielle Zahl bei 27 Corona-Toten. Inzwischen gibt die Kaukasus-Republik an, dass mehr als 340 Menschen an Covid-19 gestorben seien. Allerdings meldet sie seit Ende Mai täglich nur noch eine Handvoll Infektionen und wenige Tote. Die Zahl aller Sterbefälle war zuletzt sogar unter dem mehrjährigen Mittelwert, als würden dort aktuell weniger Menschen sterben als normalerweise.
"Die Leute sterben zu Hause", berichtet ein Demograf. Ihre Angehörigen gingen jedoch nicht aufs Amt, um den Tod zu melden. Die Verstorbenen würden begraben, aber niemand erfahre etwas davon. Wahrscheinlich stehe die wahre Opferzahl erst in ein paar Monaten fest. Auch Rosstat erklärte, man erwarte, dass in einigen Regionen Tote noch bei den Ämtern nachgemeldet würden.
Dennoch steht Russland nach bisherigem Stand ziemlich gut da – selbst wenn man berücksichtigt, dass die offiziellen Zahlen nicht das ganze Bild darstellen. Wieso ist das so?
Ein Vorteil für Russland war womöglich, dass die Infektionen nicht so früh auftraten wie in Italien und Spanien. Das Land konnte so aus der Ferne beobachten, was es erwartet, und zumindest Moskau fing an, zügig Bettkapazitäten aufzubauen. Die Behörden hatten frühzeitig Ende Januar die Grenze zu China geschlossen, verordneten dann Ende März einen Lockdown, der deutlich strenger war als in Deutschland.
In Moskau durften die Menschen wochenlang das Haus nur verlassen, um den Müll rauszubringen und zum nächsten Supermarkt zu gehen. Für Fahrten zur Arbeit und zum Arzt mussten im Internet Genehmigungen beantragt werden – sonst drohten Geldstrafen. Auch andere Regionen übernahmen dieses System. Gleichzeitig wurden insgesamt die Gesetze verschärft: Wer andere mit dem Coronavirus ansteckt, dem drohen empfindliche Strafen bis hin zu Gefängnis.
Der harte russische Kurs spiegelt sich auch im Government Response Stringency Index wider, einer von Forschern der Universität Oxford entwickelten Maßzahl, welche die Maßnahmen der Länder vergleichbar machen soll. Darin fließen 17 verschiedene Indikatoren ein, etwa Art und Umfang von Schulschließungen, Ausgangsbeschränkungen und Finanzhilfen.
Folgendes Diagramm zeigt den Verlauf des Government Response Stringency Index für Russland und weitere Länder. Der Wert 0 steht für gar keine Reaktion, der Wert 100 für die strengstmögliche Reaktion auf die Coronakrise.
Der Lockdown hatte für den Straßenverkehr in Russland ganz ähnliche Folgen wie in Deutschland – war aber in seiner Wirkung nicht so stark wie in Frankreich, Spanien und Italien. Dies zeigt ein Blick auf Mobilitätsdaten mehrerer russischer Städte, die Apple aus Navigationsanfragen berechnet hat.
Der Verkehr brach demnach Ende März binnen weniger Tage auf etwa 40 Prozent des Durchschnittswerts der 4. Kalenderwoche 2020 ein. Das war sogar noch etwas weniger als in Berlin. Doch bis Mitte Juni sind die Zahlen wieder auf das Niveau vor der Coronakrise angestiegen, teils gar darüber hinaus.
Dass Russland bislang halbwegs glimpflich durch die Pandemie gekommen ist, führen Offizielle gern auf das Gesundheitswesen zurück. "Haben Sie jemals über die Möglichkeit nachgedacht, dass Russlands Gesundheitssystem leistungsfähiger sein könnte?", entgegnete Kremlsprecher Dimitrij Peskow zuletzt, als er nach den geringen Todeszahlen gefragt wurde. Was er nicht sagte, war, wie viele Ärzte und Mitarbeiter von Kliniken und medizinischen Einrichtungen in Russland schon an dem Virus gestorben sind: 489 sind es nach offiziellen Angaben. In Deutschland waren es rund siebenmal weniger: 67 Mitarbeiter in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen. Inzwischen hat Putin die Verstorbenen als Helden bezeichnet.
Als weiterer Grund wird die geringere Lebenserwartung genannt, die unter der in den westlichen Staaten liegt. Damit sei auch die Zahl der älteren und häufiger durch Vorerkrankungen geschwächten Menschen geringer, lautet eine Erklärung. Allerdings ist auch das biologische Alter der Menschen vor allem in den Regionen niedriger, wo die Lebensbedingungen härter sind.
Zudem gibt es in Russland vergleichsweise wenige Altersheime, es sind zusammen mit psychiatrischen Einrichtungen gerade einmal 1300 Häuser mit 250.000 Bewohnern. Deutschland hat allein 15.000 Pflegeheime.
Womöglich profitieren vor allem ältere Russen auch von einer Impfung in Sowjetzeiten. Damals war die Impfung gegen Tuberkulose mit lebenden Erregern Pflicht, noch heute haben die Russen darauf ein Anrecht, die Impfpflicht besteht jedoch nicht mehr. Es gibt Hinweise aus Studien, dass das Immunsystem durch diese Impfung besser auf das Coronavirus reagieren kann.
Lockerungen zu früh?
Auch wenn Putin zuletzt betonte, wie viel besser Russland die Pandemie meistert als die USA – bei den Lockerungen gehen beide Länder einen ähnlich riskanten Weg. Obwohl die Infektionen noch lange nicht überall deutlich gesunken sind, wird die Rückkehr zur Normalität verordnet, als ob das Virus bereits besiegt sei.
Putin macht dies nicht nur aus wirtschaftlichen, sondern vor allem aus politischen Gründen. Der Präsident will am Mittwoch die großen Militärparaden zum Ende des Zweiten Weltkriegs vor 75 Jahren abhalten, die am 9. Mai wegen Corona abgesagt wurden. Im Anschluss lässt er die Russinnen und Russen endlich über seine Verfassungsänderungen bis zum 1. Juli abstimmen.
Drohen neue Ausbrüche, wenn Hunderte Soldaten aufmarschieren, Zehntausende auf den Straßen unterwegs sind? In Moskau appellierte der Bürgermeister an die Menschen, sich die Parade lieber vor dem Fernseher und nicht wie sonst auf den Straßen anzuschauen. 13 Regionen sagten die Paraden in ihren Hauptstädten lieber ab, zu groß scheint ihnen das Risiko.
Die Abstimmung aber müssen nun alle durchziehen – und dafür sollen die meisten Menschen in die Wahllokale. Online kann nur in zwei Gebieten abgestimmt werden: in Moskau und Nischnij Nowgorod.
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