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Corona-Fälle in Fleischfabrik: Wut auf Tönnies

June 18
21:46 2020
Mahnwache zur Situation gegen Tönnies auf dem Marktplatz in Rheda-Wiedenbrück Icon: vergrößern

Mahnwache zur Situation gegen Tönnies auf dem Marktplatz in Rheda-Wiedenbrück

David Inderlied/ DPA

"Du musst das Büro fragen. Hier wird niemand etwas erzählen”, sagt ein Mann in blauem T-Shirt, mit kurz geschorenem Haar und kleiner Warze auf der Nase. Er spricht Polnisch und arbeitet in der Produktion des Fleischwarenherstellers Tönnies. Das verrät er dann doch.

Der Mann wohnt zusammen mit ein paar Dutzend Kollegen in einem Plattenbau in Verl-Sürenheide, mit dem Auto sind es 25 Minuten zu seinem temporären Arbeitsplatz: dem Tönnies-Werk in Rheda-Wiedenbrück, Deutschlands größtem Schlachthof. Im ganzen Kreis Gütersloh sind Mitarbeiter des Fleischkonzerns untergebracht. Sie halten sich hier auf, um zu arbeiten – nicht, um dauerhaft zu bleiben. So sieht der Wohnblock an der Libellenstraße auch aus. Putz bröckelt von der Fassade, viele Jalousien sind heruntergelassen.

Nicole Ritschel, 31, kennt solche Wohnungen. Es gibt sie auch in Wiedenbrück, wo sie lebt. "Immer das Gleiche", sagt sie: "Ein Haus steht leer, Tönnies kauft es, reißt die Gardinen heraus und pfercht seine Mitarbeiter hinein. Die Menschen tun mir leid.” Jetzt ganz besonders, da das Coronavirus unter ihnen wütet, mit bislang 730 bestätigten Infektionen und noch mehr als 5000 ausstehenden Tests. Ritschel hat sich mit ihren beiden kleinen Töchtern aufgemacht zur Mahnwache an diesem Donnerstag auf dem Marktplatz von Wiedenbrück.

"Stoppt die Ausbeute bei Tönnies”, steht auf dem Schild, das Ritschel an ihr Lastenrad geklebt hat. Dutzende weitere Menschen halten Plakate hoch, "Wir woll'n zur Schule” ist darauf zu lesen. Oder "Clemens spielt Onkel Dagobert, wir spielen wieder alleine.” Denn die Schulen und Kitas im Kreis sind geschlossen. Wegen Tönnies. Wegen seines Schlachthofs, derzeit Corona-Hotspot Nummer Eins in Deutschland.

Inbegriff der durchindustrialisierten Fleischfabrik

Das Werk in Rheda mit seinen mehr als 6000 Beschäftigten ist der Inbegriff der durchindustrialisierten und prozessoptimierten Fleischfabrik. Bis zu 3,5 Millionen Kilo Lebendgewicht kann das Werk nach Unternehmensangaben täglich verarbeiten. Das heißt: um die 30.000 Schweine könnten hier jeden Tag geschlachtet werden. Zuletzt waren es etwa 20.000. Das sind ungefähr so viele Tiere, wie die größten Konkurrenten Westfleisch und Vion in allen ihren deutschen Werken zusammen töten – und gut ein Achtel des gesamten Marktes.

Aber jetzt ist die Produktion gestoppt, und wann sie wieder startet, ist ungewiss. Das ist nicht nur ein Problem für den Konzern. Sondern auf Dauer auch für die deutschen Fleischkonsumenten. Und für die Politiker. Denn die müssen womöglich entscheiden, was wichtiger ist: die Eindämmung des Coronavirus – oder der Schweinefleisch-Nachschub.

Der Ausfall in Rheda lässt sich womöglich kompensieren; andere Tönnies-Werke sollen nun umso mehr Tiere töten und verarbeiten. Und in manchen Schlachthöfen von Konkurrenten, die auch schon Masseninfektionen erlebt haben, wird inzwischen wieder gearbeitet. Doch der extrem große Corona-Ausbruch bei Tönnies wirft Fragen auf: Was, wenn sich die Beschäftigten nicht so stark in den Unterkünften anstecken, sondern in der Fabrik? Wie infektionssicher sind Schlachthäuser überhaupt noch, so wie sie derzeit betrieben werden?

Oder hat Tönnies bloß geschludert bei den Abstandsregeln und Schutzmaßnahmen? So lässt es ein Video aus der Werkskantine vermuten, das im Netz kursiert. Es zeigt Arbeiter, die so eng beieinander sitzen, als gebe es keine Pandemie. Dass das Video echt ist, bestätigt die Pressestelle. Allerdings stammt es offenbar von Ende März oder Anfang April – aus einer Zeit vor den ersten Massen-Ausbrüchen in Schlachthöfen und den erweiterten Schutzmaßnahmen bei Tönnies.

Aufgewärmte Familienfehde

Neu hochkochen lässt der Ausbruch auch den jahrelangen Streit zwischen Firmenpatriarch Clemens Tönnies und seinem Miteigentümer und Neffen Robert. "Aufgrund dieses unverantwortlichen Handelns und der Gefährdung des Unternehmens und der Bevölkerung fordere ich die Geschäftsleitung und die verantwortlichen Beiratsmitglieder auf, […] geschlossen von Ihren Ämtern zurückzutreten", schreibt Robert Tönnies in einem Brief an die Firmenspitze, der dem SPIEGEL vorliegt und über den das manager magazin zuerst berichtete. Der Corona-Ausbruch sei "das Ergebnis Ihrer Blockadehaltung bei der Abschaffung des Systems der Werkverträge und Ihrer sorglosen, unverantwortlichen Haltung hinsichtlich der Risiken aus der Corona-Pandemie". Robert Tönnies hat vor Gericht eine Zerrüttungsklage zum Verkauf des Unternehmens eingereicht. Die Abschaffung der Werkverträge soll ein eigener Streitpunkt in dieser Klage sein.

Clemens Tönnies weist die Vorwürfe zurück. Er werde nicht in einem schweren Sturm das Unternehmen verlassen, schreibt der Patriarch nach SPIEGEL-Informationen in seiner Antwort an den Neffen. Die verantwortlichen Behörden hätten seinem Unternehmen den besten Umgang mit der Pandemie testiert. Unter anderem hat Tönnies Temperaturkontrollen für die Mitarbeiter und ein hauseigenes Corona-Testcenter eingeführt.

Konzernmanager spielen eine Ausbreitung des Virus über die Sammelunterkünfte herunter – obwohl dort die Werkvertragsarbeiter oft eng zusammenleben. Dies sei "nicht ausschlaggebend für die Verbreitung", sagt etwa der Leiter des Pandemie-Krisenstabs, Gereon Schulze-Althoff. Statt dessen wachse "die fachliche Erkenntnis, dass gerade gekühlte Räume mit herbstlichen Bedingungen die Situation verstärken können, dass es zu Spreading Events kommt."

Auch unabhängige Experten haben diesen Verdacht. Die "fast Kühlschrank-Temperaturen" könnten die Ausbreitung des Virus begünstigen, sagt etwa Christian Drosten. Und: "es ist auffallend, wie oft es in der Fleischindustrie große Ausbrüche gibt – häufiger als in anderen Branchen mit Werkvertragsnehmenden wie der Bauindustrie oder auch bei Erntehelfern", sagt der Hamburger Soziologe Marcel Sebastian, der über die Schlachthofarbeit promoviert hat. "Wenn es an den klimatischen Bedingungen in den Fabriken liegt, ist das ein substanzielles Problem: für die gesamte Fleischproduktion, wie wir sie kennen."

Nicht nur in Deutschland sind Schlachthöfe zu Corona-Hotspots geworden, sondern auch in Ländern wie den USA, Kanada oder Brasilien. Dort wurden allein im Bundesstaat Rio Grande do Sul bereits schon mehr als 2000 Mitarbeiter von Fleischfabriken positiv getestet. In keinem dieser Länder gibt es ein mit Deutschland vergleichbares System von Werkvertragsnehmern. Stattdessen haben die Arbeiter dort oft ihren Lebensmittelpunkt vor Ort, in Massenunterkünften haust man vergleichsweise selten zusammen.

Die Margen sind eng

Aber im Schlachthof müssen sie dicht nebeneinander stehen: etwa bei der Zerlegung. Hier haben die Arbeiter oft nur 70 oder 80 Zentimeter Abstand voneinander, wenn sie ihre "Cuts" machen, die immer gleichen Schnitte. Es ist eine körperlich harte Arbeit bei niedrigen Temperaturen und einer künstlichen Belüftung, die womöglich virushaltige Aerosole von einem Platz zum nächsten pustet.

Die Arbeitsprozesse und Bedingungen in den Fabriken sind über Jahrzehnte hinweg durchoptimiert worden. Der Konkurrenzdruck gerade in Deutschland ist hoch, die Absatzpreise sind niedrig. Und die Margen entsprechend eng. "Unter diesen Voraussetzungen hat ein einzelnes Unternehmen kaum Möglichkeiten, seine Strukturen grundlegend zu ändern, etwa die Bänder langsamer laufen zu lassen oder größere Abstände zwischen den Arbeitsplätzen zu schaffen", sagt Experte Sebastian. "Das wäre ökonomischer Selbstmord." Die Politik müsse daher eingreifen – und allen Betrieben bessere Arbeitsbedingungen vorschreiben.

Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) will Werkverträge in der Fleischindustrie vom Jahreswechsel an weitgehend verbieten. Dies könnte die Ansteckungsgefahr in Unterkünften womöglich reduzieren – nicht aber am Arbeitsplatz. "Wenn sich wirklich herausstellen sollte, dass die klimatischen Bedingungen verantwortlich für die Infektionen sind, ist das auch ein Problem für die Politik", sagt Sebastian. Denn die müsse dann entscheiden, ob sie die potenziellen Corona-Hotspots trotz Risiken weiter laufen lässt oder schließt. Und: "Wenn Fleisch nicht mehr im Supermarkt liegt, hat das eine enorme soziale Sprengkraft."

Auf dem Tönnies-Gelände gibt es noch reichlich Fleisch an diesem Donnerstagmorgen. Der Werksverkauf und das Restaurant sind geöffnet. Ob dies in den kommenden Tagen auch noch so sei, könne sie nicht sagen, erklärt eine Kassiererin. Man wisse ja nicht, was noch alles passiert.

Icon: Der Spiegel

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