Comeback der deutschen Wirtschaft trotz Corona: Das “V” steht für Vorsicht

Hamburger Hafen
Foto: Axel Heimken/dpa
Es ist zwar ein bisschen krakelig, aber in den Daten des Statistischen Bundesamtes kann man es durchaus schon erkennen: das "V", nach dem alle Wirtschaftsforscher in der Coronakrise Ausschau halten. Ein V-förmiger Verlauf der Rezession würde bedeuten, dass sich die Wirtschaft nach dem rasanten Absturz durch die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung in ähnlich schnellem Tempo auch wieder erholt.
Deutschland kommt wieder ins Rollen, und zwar: im Wortsinn. Autobahnen und Landstraßen sind wieder voll mit Lastwagen, die Waren in Läden und Bauteile in Fabriken fahren. Inzwischen sind sogar fast wieder so viele LKW unterwegs wie vor Ausbruch der Coronakrise – ein Indiz, dass sich die Wirtschaft in Deutschland womöglich schneller erholt als gedacht. Das zeigen die Daten des LKW-Maut-Fahrleistungsindex des Statistischen Bundesamtes.
Dieser Eindruck wird gestützt von zahlreichen Frühindikatoren: Auch der Ifo-Index, das inoffizielle Stimmungsbarometer der deutschen Konzerne, hat im Juli einen deutlichen Hüpfer nach oben gemacht und jenen Bereich, der auf eine Rezession hindeutet, verlassen. Noch besser sieht es offenbar in der Industrie aus: Der IHS-Einkaufsmanagerindex ist auf den höchsten Wert seit 22 Monaten gestiegen, im wichtigen Dienstleistungssektor ist es ähnlich.
Entsprechende Entwicklungen verzeichnet auch die europäische Nachbarschaft: Auftragseingänge und Produktion in der Eurozone liegen laut IHS-Index inzwischen wieder über dem Stand der Vor-Corona-Zeit.
Ganz ähnlich wirkt auch das Bild, dass der "Recovery Tracker" zeichnet (hier geht es zu den Daten). Das Analysehaus Capital Economics hat den Index entwickelt, er fasst etwa Mobilitätsdaten wie Routenanfragen über das Handy, ÖPNV-Nutzung und die Besuchsfrequenz in Einzelhandel und Gastronomie zusammen.
Alle diese Entwicklungen sind gute Nachrichten. Sie wecken Hoffnung, Betriebe und Beschäftigte könnten den schlimmsten Teil der Wirtschaftskrise womöglich bereits bald hinter sich haben.
Doch die Daten sind auch trügerisch. "Einige Kennziffern wie Handels- und Gastronomie-Buchungen haben bereits ihr Vor-Krisenniveau wieder erreicht oder sogar übertroffen – doch die meisten Indikatoren liegen noch weit darunter", sagt Andrew Kenningham, bei Capital Economics Chefökonom für Europa. Auch die Unternehmensinvestitionen dürften sich in den kommenden ein, zwei Jahren eher schleppend entwickeln, "wegen der Unwägbarkeiten, denen sich die Firmen gegenüber sehen."
Kenningham geht – trotz der zuletzt guten Entwicklung – davon aus, Deutschland werde erst Ende 2022 wieder die gleiche Wirtschaftskraft erreichen wie vor dem Ausbruch des Coronavirus. "Und um ehrlich zu sein ist auch das nicht mehr als ein educated guess (eine begründete Vermutung)."
Riesige Unterschiede zwischen den Wachstumsprognosen
Ökonomen tun sich derzeit noch schwerer als ohnehin schon, sich auf Wachstumsraten für 2020 und 2021 festzulegen. Die Wirtschaftskennziffern, mit denen sie arbeiten, sind eher für die konjunkturelle Routine gedacht, für klassische Auf- und Abschwünge. Wie eine Volkswirtschaft nach einer Vollbremsung wie im März reagiert, ist hingegen kaum erforscht.
Zwischen den veröffentlichten Wachstumsprognosen liegen deshalb teils enorme Spannen, selbst dann, wenn sie im Abstand weniger Wochen erstellt wurden. So hat etwa das Berliner Institut DIW im Juni vorgerechnet, die Wirtschaft könnte 2020 um 9,4 Prozent schrumpfen. Die Kollegen vom Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) kamen – ebenfalls im Juni – hingegen auf ein Minus von nur 5,1 Prozent.
In einem aber sind sich alle einig: Schnell wird es der deutschen Wirtschaft nicht gelingen, die erlittenen Verluste wieder auszugleichen. Es dürfte Jahre dauern, bis die reale Wertschöpfung den Stand vor Ausbruch der Krise erreicht. "Ich rechne damit, dass sich die Erholung fortsetzt, aber eher langsam", sagt Clemens Fuest. Sein Ifo-Institut hatte Ende März vor einem Wirtschaftseinbruch von im schlimmsten Falle 20 Prozent gewarnt und rechnete zuletzt noch mit minus 6,6 Prozent. "Bis zu einer Normalisierung wird es noch lange dauern, sicherlich bis weit ins Jahr 2021."
Torsten Schmidt, Konjunkturchef des RWI in Essen, eigentlich eher im Lager der Optimisten, sieht das ähnlich. Sein Institut rechnet "nur" mit einem Minus von 5,8 Prozent. Schmidt sagt, es gebe Anzeichen für "eine deutliche Erholung im dritten Quartal". Die deutsche Wirtschaft nehme zwar rasch wieder an Fahrt auf – doch wegen der Tiefe des vorherigen Absturzes werde sie auch im zweiten Halbjahr "unterhalb der Normalauslastung" bleiben.
Das Problem: Je länger sich die Erholung hinzieht, desto größer dürften die Folgen für den Arbeitsmarkt werden. Die Folgen der Rezession erscheinen bislang vor allem deshalb noch verhältnismäßig glimpflich, weil nur wenige Beschäftigte ihre Jobs verloren haben. Das könnte sich allerdings selbst dann bald ändern, wenn die Wirtschaft wieder kräftig wächst. Konjunkturexperten bezeichnen die Arbeitslosenquote als "nachlaufenden Indikator". Das heißt, dass Wirtschaftsturbulenzen in der Regel nur mit erheblicher Verzögerung auf den Arbeitsmarkt durchschlagen.
Menetekel USA?
Wie hoch die Arbeitslosigkeit steigen wird, hängt nicht nur von der Entwicklung im Inland ab. Deutschland ist eng mit seinen Handelspartnern verflochten. "Die Nachfrage ist schwach in allen Hauptexport-Märkten Deutschlands", sagt Kenningham.
Und einer der wichtigsten Handelspartner macht derzeit auch die größten Sorgen: die USA. Dort hatte die Erholung der Wirtschaft ähnlich wie in der Eurozone gerade Fahrt aufgenommen. Doch Daten von Capital Economics zeigen, wie die steigenden Corona-Infektionszahlen dort die Konsumausgaben wieder abwürgen, eigentlich eine Triebfeder des Aufschwungs. Indikatoren wie die Hotelauslastung, Restaurant-Besuche oder gebuchte Flugreisen stagnieren nicht nur – sie sinken sogar wieder.
Die Entwicklung in den USA unterstreicht: Die Erholung in Deutschland ist fragil und mahnt zu Vorsicht. Sollte sich das Virus auch hierzulande wieder stärker verbreiten, dürfte der private Konsum erneut zurückgehen. Die Bürger würden die Läden meiden, wegen der Ansteckungsgefahr.
Und ein zweiter Lockdown? "Aus wirtschaftlicher Sicht wäre das eine absolute Katastrophe", sagt Angel Talavera, Ökonom und Europaexperte bei der Firma Oxford Economics. Die Wirtschaft könnte doppelt so stark schrumpfen wie bislang gedacht. Hinzu kämen "dauerhafte Schäden" – das Gegenteil von Erholung also.
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