China: Sterilisierung und Abtreibung bei Uiguren

Internierungslager bei Hotan in der Autonomieregion Xinjiang
Greg Baker/ AFP
Es sind erschütternde Szenen und schockierende Prozeduren: Mütter, die von ihren Kindern getrennt und in Internierungslager eingewiesen werden; junge Frauen, denen Verhütungsmittel verabreicht und Spiralen eingesetzt werden; gynäkologische Zwangsuntersuchungen, Zwangssterilisationen, ja Zwangsabtreibungen.
Die Schrecken der Einkindpolitik, die Leid über Millionen chinesische Familien brachten und die 2015 offiziell beendet wurde, sind offenbar wieder zurück – in der Autonomieregion Xinjiang im Westen Chinas.
Erneut bestätigen zwei detaillierte, auf Dokumenten und auf Interviews beruhende Berichte, wie gezielt und wie rücksichtslos Chinas Behörden gegen die in Xinjiang lebende Minderheit der Uiguren und andere muslimische Bevölkerungsgruppen vorgeht.
Viel Geld für neue Maßnahmen der Geburtenkontrolle
Der aus Deutschland stammende Xinjiang-Forscher Adrian Zenz hat für die kommunismuskritische Jamestown Foundation in Washington chinesische Statistiken und Regierungsdokumente ausgewertet. Seinen Recherchen zufolge ist die Geburtenrate in Xinjiang zwischen 2015 und 2018 dramatisch eingebrochen, im Schnitt um 24 Prozent, in zwei Präfekturen sogar um 84 Prozent.
Zugleich habe der Staat Millionen in neue Maßnahmen der Geburtenkontrolle investiert. Xinjiang, dessen Bevölkerung jahrzehntelang rasch wuchs, zähle inzwischen zu den Regionen mit den niedrigsten Geburtenraten. "Diese Art von Rückgang ist beispiellos", sagte Zenz der Nachrichten Agentur AP. "Das ist Teil einer umfassenderen Kontrollkampagne, um die Uiguren zu unterwerfen."
Siebenfacher Vater muss sieben Jahre ins Gefängnis – für jedes Kind ein Jahr
In einem eigenen, Zenz' Recherchen ergänzenden Bericht, beschreibt AP, wie diese Kampagne konkret aussieht. Gespräche mit 30 ehemaligen Insassinnen der Lager, deren Familienmitgliedern und einer früheren Ausbilderin schildern dramatische Einzelschicksale von Frauen in den Internierungslagern.
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Die ethnische Kasachin Dina Nurdybay, selbst kinderlos und unverheiratet, berichtet, dass ihre verheirateten Zellengenossinnen zu Schwangerschaftstests verpflichtet und ihnen sogenannte Intrauterinpessare eingesetzt wurden, Spiralen also.
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Eine andere Frau, Tursunay Ziyawudun, erzählt, dass man ihr Injektionen verabreicht habe, bis ihre Periode aussetzte; außerdem habe man ihr bei Verhören in den Unterleib getreten.
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Eine dritte, Gulbakhar Jalilova, berichtet, dass Frauen in ihrem Lager zu Abtreibungen gezwungen worden seien.
Auch Männer sind offenbar betroffen. Ein Obsthändler namens Abdushukur Umar, Vater von sieben Kindern, sei 2017 in ein Lager eingewiesen und später zu einer siebenjährigen Gefängnisstrafe verurteilt worden – ein Jahr für jedes seiner Kinder.
"Wie kannst du für sieben Jahre eingesperrt werden, weil du zu viele Kinder hast?", so Umars in die Türkei geflüchtete Cousine Zuhra Sultan. "Wir leben im 21. Jahrhundert – das ist unvorstellbar."
Als die Einkindpolitik Ende der Siebzigerjahre eingeführt wurde, galten für die Landbevölkerung und ethnische Minderheiten vergleichsweise großzügige Regelungen. Scharf wurde die Einkindpolitik dagegen in den Städten umgesetzt – mit traumatischen Folgen für Opfer und Täter, wie Chinas Literaturnobelpreisträger Mo Yan in seinem 2009 erschienen Roman "Frösche" beschrieb.
Systematische Geburtenkontrolle bei einzelnen ethnischen und konfessionellen Gruppen
Unter dem Eindruck sinkender Geburtenraten wurde die Einkindpolitik ab 2013 auch in den Städten gelockert und 2015 offiziell abgeschafft. Inzwischen aber, so legen Zenz' Studie und der AP-Bericht nahe, wird die Geburtenkontrolle systematisch gegen einzelne ethnische und konfessionelle Gruppen eingesetzt.
Offiziell, so hatte Xinjiangs Parteichef 2014 verkündet, gelte für alle Ethnien die "gleiche Familienplanungspolitik"; Ziel sei eine "Reduktion und Stabilisierung der Geburtenraten". Tatsächlich, so der AP-Bericht, seien Han-Chinesen von den Maßnahmen der vergangenen Jahre aber weitgehend ausgenommen. Manche Muslime auf dem Land würden hingegen selbst dann bestraft, wenn sie drei Kinder haben – wozu sie gesetzlich berechtigt sind.
Peking rechtfertigt das Überwachungs- und Internierungs-Regime in Xinjiang als Antiterrormaßnahme; zwischen 2009 und 2014 waren eine Reihe von Anschlägen verübt worden, die militanten Uiguren zugeschrieben werden.
"Demografischer Genozid"
Die Uiguren beklagen, dass ihr Bevölkerungsanteil in Xinjiang von über 80 Prozent 1949 auf inzwischen weniger als die Hälfte gesunken sei. Dieses Ungleichgewicht dürfte sich durch die von Zenz und der AP beschriebene Bevölkerungspolitik weiter zugunsten der Han-Chinesen verschieben. Menschenrechtler sprechen von einem "demografischen Genozid".
Chinas Regierung bestreitet alle Vorwürfe. Außenamtssprecher Zhao Lijian beschuldigte westliche Medien am Montag, "falsche Informationen aufzukochen"; die Lage in Xinjiang sei "harmonisch und stabil".
US-Außenminister Mike Pompeo sagte, die jüngsten Berichte aus Xinjiang demonstrierten "eine völlige Missachtung der Unverletzlichkeit des menschlichen Lebens und der grundlegenden Würde des Menschen".
Der amerikanische Chinaexperte Bill Bishop, der einen unter westlichen Diplomaten und Politikern einflussreichen Newsletter herausgibt, erwartet schwere außenpolitische Konsequenzen: Die Enthüllungen aus Xinjiang würden es "für die EU und vor allem Deutschland schwerer machen, eine relativ weiche Haltung gegenüber China einzunehmen." Außerdem sei damit zu rechnen, dass sich nun die Rufe nach einem Boykott der Olympischen Winterspiele 2022 in Peking mehren würden.
Icon: Der Spiegel