Brexit-Folgen für Verbrechensbekämpfung: Großbritannien droht aus allen EU-Datenbanken zu fliegen

Britischer Premier Johnson mit Polizistinnen: Zusammenarbeit mit der EU bei der Strafverfolgung steht auf der Kippe
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Es war kein angenehmer Termin für den britischen Innenminister. Der Brexit werde die Sicherheitslage in Großbritannien selbstverständlich nicht schmälern, beteuerte James Brokenshire Mitte Juni vor dem zuständigen Ausschuss des Londoner Oberhauses. Und natürlich werde man weiter eng mit der EU zusammenarbeiten.
Doch die Lords schienen nicht überzeugt. "Erbärmlich" sei die Lage gewesen, bevor sich Großbritannien etwa dem Europäischen Haftbefehl angeschlossen habe, sagte der Waliser Baron Ted Rowlands. Gesuchte hätten sich in Ländern ohne Auslieferungsabkommen völlig frei bewegen können – "darunter die Typen, die an Spaniens Costa del Sol lebten". "Ich hoffe doch sehr", sagte Rowlands, "dass wir das nicht zurückhaben wollen."
Doch wie er die Kooperation mit der EU gleichwertig zu ersetzen gedenke, konnte Brokenshire auch auf mehrfache Nachfrage nicht schlüssig beantworten. Stattdessen sieht derzeit alles danach aus, als würden die Briten den Zugang zu allen Strafverfolgungsnetzwerken der EU verlieren, wenn am 31. Dezember die Übergangsphase nach dem Brexit endet.
Es sei denn, es gibt rechtzeitig ein umfassendes Abkommen, das die bisherigen Vereinbarungen ersetzt. Danach aber sieht es derzeit nicht aus, im Gegenteil. Eine Verlängerung der Übergangsfrist hat die britische Regierung kürzlich offiziell ausgeschlossen. Damit droht zum Jahresende erneut ein harter Brexit ohne Abkommen.
"Überhaupt kein Interesse"
Zwar könnten Mini-Verträge auf bestimmten Gebieten das schlimmste Chaos lindern. Dabei werde man sich auf die Themen konzentrieren, "bei denen ohne Abkommen der größte Schaden droht", sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen im Interview mit dem SPIEGEL.
Ob die Justizzusammenarbeit dazugehört, darf man bezweifeln. Im Brexit-Drama spielte sie bisher bestenfalls eine Statistenrolle neben Themen wie Handelszöllen, der Fischerei oder der Nordirlandfrage. Und die Briten zeigten an dem Thema "überhaupt kein Interesse, geschweige denn gesteigertes", sagt die SPD-Europaabgeordnete und ehemalige Bundesjustizministerin Katarina Barley dem SPIEGEL.
Dabei steht viel auf dem Spiel. Da wäre zum einen die Zusammenarbeit beim Schengener Informationssystem (SIS II), der mit Abstand größten Fahndungsdatenbank der EU. Sie enthält die Daten von Terrorverdächtigen, Waffen und mehreren Zehntausend Personen, die mit dem Europäischen Haftbefehl gesucht werden – insgesamt rund 90 Millionen Einträge. Zwar war Großbritannien nie Teil des Schengen-Gebiets, doch der damaligen Premierministerin Theresa May gelang es 2015, ihrem Land den Zugang zu SIS II sichern.
Für die Briten hat sich der Deal gelohnt: Von den fast 6,7 Milliarden Zugriffen auf die Datenbank im Jahr 2019 kamen fast 572 Millionen allein aus Großbritannien. Nur Spanien und Frankreich nutzten das System noch intensiver. Die Interpol-Datenbanken, auf die Großbritannien zurückfallen würde, enthalten nur einen Bruchteil dieser Datenmenge. Ohne SIS II wäre Großbritannien "eine kleine Insel vor dem Kontinent", warnte der britische Tory-Politiker Timothy Kirkhope bereits kurz nach dem Brexit-Referendum.
Beim Verlust des SIS-II-Zugangs würde es nicht bleiben. Zur Disposition stehen auch:
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der Europäische Haftbefehl, der die Auslieferung von Straftätern stark erleichtert,
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die Zusammenarbeit mit der EU-Polizeibehörde Europol und der Justizbehörde Eurojust,
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das Europäische Strafregister-Informationssystem (Ecris), mit dem Sicherheitsbehörden teils sekundenschnell Informationen über Straftäter aus allen anderen Mitgliedsländer beziehen können,
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der Prümer Vertrag über den Austausch von Erbgut-Profilen, Fingerabdrücken und Fahrzeugdaten.
Hinzu kommen weitere 15 Netzwerke, Informationssysteme und Datenbanken, darunter etwa das Übereinkommen über Sicherheit bei Fußballspielen, das auf die Tragödie im Brüsseler Heysel-Stadion von 1985 zurückgeht, bei der randalierende Liverpool-Fans eine Massenpanik mit 39 Toten auslösten.
"Schlimmstes Szenario wäre ein Terroranschlag"
Im Falle eines No-Deal-Brexits würde Großbritannien auf eine Reihe von bilateralen oder internationalen Abkommen zurückfallen, die zum Teil Jahrzehnte alt sind. Britische Polizeibehörden haben die Politik schon kurz nach dem Brexit-Referendum vor einem solchen Szenario gewarnt. Auch in europäischen Sicherheitsbehörden sei man "fassungslos" darüber, dass Brüssel und London "sehenden Auges in ein solches Problem hineinrutschen", sagt Sebastian Fiedler, Vorsitzender des Bundes Deutscher Kriminalbeamter.
Sollten die Briten über Nacht aus allen EU-Netzwerken fallen, gäbe es erhebliche Probleme bei gemeinsamen Ermittlungen und beim schnellen Datenaustausch. "Es wäre für jede einzelne Maßnahme ein Rechtshilfeersuchen nötig, und es entstünden Informationsdefizite", so Fiedler. "Das führt in Großbritannien und der EU zu einem großen Sicherheitsproblem mit hohem Schadenspotenzial." Premier Johnson habe das bislang verschwiegen.
"Das schlimmste Szenario wäre", so Fiedler, "dass es zu einem Terroranschlag kommt, weil Informationen nicht oder zu langsam ausgetauscht wurden."
Die Versuche der Londoner und Brüsseler Verhandlungsteams, für angemessenen Ersatz zu sorgen, blieben bisher weitgehend ergebnislos. Stattdessen kam es mehrfach zum Streit. So warf die EU den Briten bereits 2018 in einem Prüfbericht Dutzende Verstöße gegen die Regeln des Schengener Informationssystems vor. Demnach haben britische Behörden sogar massenhaft SIS-II-Daten illegal kopiert, hieß es in einem vertraulichen EU-Prüfbericht. Auch hätten die Briten 2016 nur rund 9500 Treffer aufgrund von Anfragen aus dem Ausland gemeldet. Das stehe in keinem Verhältnis zu den mehr als 514 Millionen britischen Suchanfragen aus demselben Jahr.
Ärger gibt es auch über eine neue Auslieferungspraxis, da die Briten ab 2021 nicht mehr am Europäischen Haftbefehl teilnehmen werden. In dieser Frage gebe es bisher "nahezu keinen Fortschritt", heißt es in einem internen EU-Vermerk an die Mitgliedsländer von Mitte Juni.
Zahlreiche Londoner Sonderwünsche würden zudem dazu führen, dass britische Behörden großen Spielraum für die Ablehnung von Auslieferungsanträgen aus EU-Staaten hätten. Das sei nach Einschätzung der EU-Kommission "einseitig" und "inakzeptabel", heißt es in dem Dokument, das dem SPIEGEL vorliegt. Britische Diplomaten geben zurück, man wolle lediglich "wichtige Schutznahmen" in dem Abkommen verankern.
Auch um den Prümer Vertrag gab es Unstimmigkeiten. Großbritannien nimmt seit dem Sommer 2019 am DNA- und Fingerabdruck-Austausch teil, speiste aber – anders als die anderen Länder – nur die Daten von Verurteilten und nicht von Verdächtigen ein. Die EU stellte London ein Ultimatum: Sollte die britische Regierung ihre Praxis nicht bis zum 15. Juni ändern, fliegt sie wieder aus dem Austausch heraus. Am Ende knickten die Briten ein: Wenige Stunden vor Ablauf der Frist verkündete Justizminister Brokenshire, dass man den Wunsch der EU erfüllen werde.
Das sei ein "Warnschuss" der EU gewesen, sagt SPD-Politikerin Barley. "Wir haben den Briten deutlich gemacht: Ihr bekommt von uns keinen Vertrauensvorschuss mehr." Das Einlenken Londons zeige, "dass sie dieses Signal wahrgenommen haben." Gleichwohl ist Barley skeptisch, dass das Beispiel Schule machen wird. "Ich bin nicht optimistisch, dass vor Jahresende noch eine Einigung auf ein Justizabkommen gelingt."
Am Ende könnte eine Einigung auch am Dogma der britischen Regierung scheitern, künftig keinerlei EU-Regeln mehr zu folgen – und am Dogma der EU, ihr Rechtssystem nicht zu kompromittieren. So hat Premier Johnson die EU-Kommission Anfang März darüber informiert, dass sein Land die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) nicht mehr formell anwenden werde.
Die Position der EU dazu ist klar: Sollte Großbritannien das wahr machen, wäre es mit der Zusammenarbeit in der Strafverfolgung sofort vorbei – so steht es im Entwurf des Abkommens über die künftigen Beziehungen, das EU-Chefverhandler Michel Barnier Mitte März vorgelegt hat.
Daran hat sich bis heute nicht geändert. Die Umsetzung der EMRK durch Großbritannien sei eine "Vorbedingung für jede Form der justiziellen Zusammenarbeit", heißt es aus der Kommission. Die Briten betonen dagegen, dass sie selbstverständlich weiterhin die Grundrechte-Standards einhalten würden – nur eben nicht unter Kontrolle der EU.
Dass die EU-Kommission nach dem Brexit die Umsetzung der EMRK in Großbritannien überwachen solle, sei "unangebracht", heißt es aus britischen Regierungskreisen. Das sei keine Frage der Menschenrechte, "sondern eine Frage der Souveränität".
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