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Bodo Ramelow über Corona-Maßnahmen: “Der Krisenmodus ist überholt”

May 28
20:14 2020
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Ministerpräsident Ramelow mit Mund-Nasen-Schutz und Visier

Nora Klein/ DER SPIEGEL

Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) verteidigt die angekündigten Lockerungen der Corona-Maßnahmen in seinem Bundesland. Wenn man den Menschen schwere Belastungen zumute, dann könne es dafür nur eine Rechtfertigung geben: "die Abwehr von Gefahr für Leib und Leben". Die Lage habe sich in den vergangenen zwölf Wochen jedoch stark verändert. Das Robert Koch-Institut habe ihm ursprünglich ein Rechenmodell vorgelegt, wonach er von bis zu 60.000 schwer erkrankten Thüringern habe ausgehen müssen. Davon sei man weit entfernt.

Als "echtes Problem" bezeichnet Ramelow den Schulbetrieb. Man könne nicht in Fußgängerzonen Mundschutz und Abstand fordern, aber in Schulen nicht. Der Regierungschef warnt vor Panik: Man müsse "aufpassen, dass wir nicht permanent mit dem Faktor Angst arbeiten, weil Angst kein guter Ratgeber ist".

Deutschland ist seiner Meinung nach bislang "gut durch die Krise gekommen". Ramelow übt jedoch Kritik daran, dass die Ministerpräsidenten nicht geschlossener aufgetreten seien.

Lesen Sie hier das ganze Interview:

SPIEGEL: Herr Ramelow, wie haben wir uns das vorzustellen: Sie werden wach und beschließen, die Pandemie ist vorbei?

Ramelow: Nein, ganz im Gegenteil. Ich habe mir vorher jeden Tag die Lageberichte angeschaut. Ich lasse mich leiten von realen Welten und harten Fakten.

SPIEGEL: Und was bedeutet das?

Ramelow: Dass wir aus dem Krisenstabmodus aussteigen sollten.

SPIEGEL: Also ist die Krise doch vorüber?

Ramelow: Wir haben jetzt eine ganz andere Lage als noch vor zwölf Wochen. Da hatte uns das Robert Koch-Institut ein Rechenmodell vorgelegt, bei dem ich von bis zu 60.000 schwer erkrankten Thüringern ausgehen musste. Für die alle hätten wir keine angemessene medizinische Versorgung sicherstellen können. Das war die Ausgangslage für den Lockdown. Wenn man den Menschen schwerste Belastungen zumutet – dass ein öffentliches Leben kaum mehr stattfindet, Kindergärten geschlossen werden, Schulen, Gaststätten, Theater –, dann darf es dafür nur eine einzige Rechtfertigung geben, nämlich die Abwehr von Gefahr für Leib und Leben.

SPIEGEL: Waren die Maßnahmen über­trieben?

Ramelow: Nein, die Gefahr war real, das hat uns Italien in bedrückender Weise gezeigt. Aber Politik muss sich legitimieren anhand der weiteren Entwicklung. Am 12. März haben wir über Indikatoren debattiert: Reproduktionszahl, Verdopplungszeit und Verhältnis von Infizierten zu Genesenen. Damals stieg die Zahl der Infizierten mit einer unglaublichen Geschwindigkeit.

SPIEGEL: Und jetzt?

Ramelow: Aktuell haben wir 239 Infi­zierte im Freistaat, 30 davon sind im Krankenhaus, 12 werden beatmet. Das ist ein Punkt, an dem ich sage: Der Krisenmodus ist überholt.

SPIEGEL: Was folgt daraus?

Ramelow: Wir halten seit März im Innenministerium und in 23 Kreisen Krisenstäbe vor, die sieben Tage die Woche 24 Stunden lang erreichbar sind. Das ist ein riesiger Personalaufwand, der durch die aktuelle Entwicklung nicht länger gerechtfertigt ist. Wir haben jetzt alle 239 Infizierten mit ihren Kontakten erfasst, nachverfolgt, und wir begleiten sie weiter.

SPIEGEL: Das klingt jetzt so, als wollten Sie nur die Verwaltung neu organisieren. Sie sind aber so verstanden worden, als wäre die Gefahr vorbei.

Ramelow: Das war in der Tat interessant. Etwas, was ich so nicht gesagt habe, wurde Gegenstand einer Empörungswelle.

SPIEGEL: Sie haben von der Aufhebung der Maßnahmen gesprochen und dass Sie keine Vorschriften mehr wollen, sondern Empfehlungen.

Ramelow: Ich finde es richtig, von Verboten zu Geboten überzugehen. Verbote können wieder nötig werden, falls es Hotspots gibt. Damit keine Missverständnisse entstehen: Corona ist immer noch da und gefährlich. Doch wir reden hier von Notstand, von Notverordnungen, die massiv in die Grundrechte der Bürger eingreifen.

SPIEGEL: Was hat sich verändert?

Ramelow: Ein Beispiel: Das Oberverwaltungsgericht in Weimar hat geurteilt, dass die Schließung eines Fitnessstudios nicht länger gerechtfertigt ist. Der Staat muss immer neu begründen, warum er die Gewerbefreiheit beschneidet. Wenn wir bei den Neuinfektionen erreicht haben, was wir erreichen wollten, dann ist eine solche Einschränkung nicht mehr aufrechtzuerhalten.

SPIEGEL: Deshalb müssen die Menschen jetzt keine Masken mehr tragen?

Ramelow: Mund-Nasen-Bedeckungen sollten dort getragen werden, wo der Mindestabstand nicht gehalten werden kann, etwa in Bussen und Straßenbahnen. Aber dafür braucht es keine Krisenstäbe oder Allgemeinverfügungen des Landes.

SPIEGEL: Aber wer regelt das dann und wie?

Ramelow: Es gibt Hygienevorschriften für viele Branchen. Nach wie vor sind auch alle von den Berufsgenossenschaften vorgeschriebenen Regeln einzuhalten. Ich habe nicht verkündet, dass die Menschen die Masken abnehmen und sich küssen sollen. Ich habe darauf hingewiesen, dass wir das, was wir im Moment durch allgemeine Verordnungen einschränken und sogar mit Bußgeld ahnden, immer ganz besonders begründen müssen.

SPIEGEL: Damit scheren Sie aus der Linie der Bundesländer aus.

Ramelow: Auch die anderen Landesregierungen sind frei in ihren Entscheidungen. Wir in Thüringen orientierten uns an den vereinbarten 800 Quadratmetern Verkaufsfläche als Obergrenze, andere ließen Möbelhäuser mit 40 000 Quadratmetern öffnen. Für unser Bundesland sage ich: Wir sollten umsteuern. Gleichwohl werden wir alles tun, um Infektionen zu bekämpfen. Ob eine Maske nötig ist oder nicht, wird sich nach den Infektionszahlen vor Ort richten. Wieso soll ich einen Mund-Nasen-Schutz für die Fußgängerzone eines Kreises vorschreiben, in dem es drei Wochen lang keine Neuinfektion gab? Dazu bin ich nicht mehr bereit. Wir führen die Maßnahmen dort wieder ein, wo es einen Hotspot gibt.

SPIEGEL: Das ist riskant.

Ramelow: Wir haben anders als Bayern und weitere Länder auch die Baumärkte offen gelassen, das hat bundesweit niemanden interessiert. Wir haben die Menschen nie gezwungen, in ihrer Wohnung zu bleiben. Ich habe sie sogar aufgefordert, ihre Wohnung zu verlassen und in den Garten zu gehen. Wir haben sie aber auch auf­gefordert, Abstand zu halten. Wir liegen niedrig bei den Zahlen der Infizierten. Um die zu halten, brauche ich keine allgemeinen Verordnungen mehr.

SPIEGEL: Was bedeutet das für die Schüler in Ihrem Land?

Ramelow: Das ist die spannendste Frage, die haben wir intensiv im Kabinett debattiert. Wir haben da, ehrlich gesagt, ein echtes Problem. Kinder, Schüler, Lehrer und Kindergärtnerinnen dürfen derzeit nicht im Normalbetrieb in Schule und Kindergarten gehen. Es ist eine juristische Frage: Wenn wir die Verordnung aus dem Infektionsschutzgesetz zugrunde legen, bleiben Theater, Hallenbäder oder Kureinrichtungen weiterhin geschlossen und in der Fußgängerzone muss Abstand gehalten und Mundschutz getragen werden. Das muss dann aber auch für die Schule gelten. Sonst kommen die Verwaltungs- und Arbeitsgerichte und entscheiden, dass diejenigen, die über 60 sind oder Vorerkrankungen haben, nicht zur Arbeit kommen dürfen. Wenn wir die Schulen regulär öffnen wollen, müssen wir vorher insgesamt umsteigen und in den Regelbetrieb kommen.

SPIEGEL: Wir verstehen Sie richtig: Solange die Krisenverordnungen gelten, können die Schulen nicht regulär öffnen?

Ramelow: Darauf hat mich unser Bildungsminister hingewiesen. Wenn die Abstände zwischen den Menschen eingehalten werden sollen, die uns das Gesundheitsministerium derzeit durchaus begründet vorgibt, werden wir zu keinem normalen Schulbetrieb kommen.

SPIEGEL: Sollen die Schulen dann nach den Sommerferien wieder normal laufen?

Ramelow: Vorher haben wir zu klären, welche Sicherheitsmaßnahmen ergriffen werden müssen. Wir wollen einen normalen Alltag plus Absicherung. Wer Angst hat, soll das Recht haben, sich testen zu lassen. Wir wollen auch in Kindereinrichtungen und Schulen gehen und spontan testen. Das soll wissenschaftlich begleitet und vom Land bezahlt werden, dazu brauche ich noch die Zustimmung des Parlaments.

SPIEGEL: Meinen Sie, dass ein Recht auf einen Test die Lage beruhigt?

Ramelow: Das ist meines Erachtens der Weg, auf dem wir mit größtmöglicher Sicherheit wieder in den Normalmodus kommen.

SPIEGEL: Inwieweit hat die Wissenschaft Ihr Regierungshandeln in den letzten Wochen beeinflusst?

Ramelow: Na ja. Unsere gesamten Debatten kranken daran, dass wir nur die bekannt Infizierten erfassen. Wir wissen doch über den Verlauf der Epidemie fast nichts, weil wir nicht wissen, wie viele Menschen erkrankt sind, ohne es zu bemerken oder getestet worden zu sein. Die Dunkelziffer ist noch unzureichend untersucht. Das klärt man nur durch Reihentests, und die machen wir gerade in Neustadt am Rennsteig, wo es ein großes Infektionsgeschehen gab.

SPIEGEL: Was hat Ihnen gefehlt?

Ramelow: Ich hätte mir verlässlichere Anweisungen oder Hinweise erbeten. Ich bin kein Mediziner, ich bin gelernter Einzelhandelskaufmann und brauche einen fundierten Rat, denn ich muss letztendlich entscheiden. Was ich in den zwölf Wochen alles gehört habe, wo dieses Virus sich verbreiten könnte! Und immer, wenn ich gerade dachte, ich hätte es verstanden, kam die nächste Wendung.

SPIEGEL: Die Wissenschaft hat eben keine endgültigen Antworten.

Ramelow: Ich habe versucht, das umzusetzen, was dem aktuellen Kenntnis- und Wissensstand entspricht. Ich versuche mich auf einer rationalen Ebene zu bewegen und für eine angemessene Risikovorsorge zu sorgen.

SPIEGEL: Die Politiker wirkten in der Krise auch nicht immer geschlossen. Teilen Sie diesen Eindruck?

Ramelow: Der Föderalismus hat hervorragend funktioniert, dabei bleibe ich, ungeachtet dessen, was ich mir die letzten Tage anhören musste. Die Kollegen haben einen guten Job gemacht unter Bedingungen, in denen wir der Bevölkerung mehr zumuten mussten, als wir uns je haben vorstellen können. Gemessen an unseren europäischen Nachbarn sind wir gut durch die Krise gekommen. Aber zur Wahrheit gehört auch: Manch eine Videokonferenz mit der Kanzlerin war noch nicht beendet, da haben einige Bundesländer schon das Gegenteil von dem umgesetzt, was wir in der Schalte beschlossen haben.

SPIEGEL: Kann es noch eine gemeinsame Linie der Länder geben?

Ramelow: Ich vermag nicht für alle zu sprechen. Michael Kretschmer, Ministerpräsident aus Sachsen, hat sich gemeldet, der sehr genau wissen wollte, was wir hier machen. Und die Kollegin Malu Dreyer aus Rheinland-Pfalz. Die haben übrigens nicht mit mir gestritten, sondern angerufen, um sich über unsere Position kundig zu machen.

SPIEGEL: Das lauteste Lob kam von der AfD in Sachsen.

Ramelow: Ja, das bekomme ich jetzt alles vorgehalten. Das ist albern. Angeblich würde ich mir die Merkel-Maske vom Gesicht reißen. Dabei war ich derjenige, der für den Mund-Nasen-Schutz gekämpft hat. Ich habe ihn zu Beginn deshalb nicht flächendeckend eingeführt, weil wir nicht genügend Masken hatten. Ich bin auch weiterhin der Meinung, dass die Bedeckung zumutbar ist. Sie sollte da eingesetzt werden, wo sie Sinn macht, aber sie macht nicht an jeder Ecke Sinn.

SPIEGEL: Ihnen wird vorgeworfen, das Virus zu verharmlosen.

Ramelow: Noch mal und ganz im Ernst, das Virus bleibt kreuzgefährlich, wir müssen jede Anstrengung unternehmen, es zu bekämpfen. Wir haben uns in Thüringen selbst um Schutzmasken gekümmert. Wir haben dafür gesorgt, dass Betriebe in Thüringen Schutzausrüstung herstellen. Mittlerweile sind die Lager voll. Es hätte sehr geholfen, wenn wir die lange versprochene Tracing-App schon hätten. Wir müssen uns aber zugleich auf die Schwerpunkte der Infektionsgefahr konzentrieren. Ein aktueller Lagebericht aus Thüringen zeigt uns, es sind vor allem Pflegeheime und Krankenhäuser, also Orte, wo Menschen eigentlich mit der Virengefahr umgehen können sollten. Da muss ich keine Verordnung erlassen, sondern die Betreiber müssen ihren Patienten Hygiene garantieren.

SPIEGEL: Sehen Sie andere Schwächen im Kampf gegen das Virus?

Ramelow: Wir hatten den öffentlichen Gesundheitsdienst vor der Krise leider vielfach aus dem Blick verloren. Wenn in unseren Landkreisen 50 Amtsarztstellen über Jahre hinweg unbesetzt sind, ist das ein Alarmzeichen. In unserem Hotspot Sonneberg hatten wir gar keinen Amtsarzt. Dort gab es zunächst keine Nachverfolgung der Infizierten, das hat mich sehr besorgt.

SPIEGEL: Mit der Rückkehr zur Normalität könnten auch die Proteste im Land abnehmen. Ist das Ihr Kalkül?

Ramelow: Nein, diese Proteste sind nicht meine Sorge gewesen. Es gibt da sehr berechtigte Proteste. Wenn die Beschäftigten der Reisebüros oder der Reisebusunternehmen vor der Staatskanzlei ihre Sorgen aufzeigen, dann findet das meinen höchsten Respekt. Es macht mich aber einigermaßen fassungslos, wenn ich einen Davidstern bei den Demonstrationen sehe. Diesen Antisemitismus, der da gezeigt wird, finde ich abstoßend. Ansonsten wundere ich mich, wie es mancher Verschwörungsunsinn bis in den eigenen Freundeskreis schafft. Das ist sehr persönlich, das geht bis in die Familie hinein.

SPIEGEL: Haben Sie eine Erklärung dafür?

Ramelow: Die Zumutung, diesen Lockdown aushalten zu müssen, ist riesengroß. Wir hatten so etwas noch nicht. Was jetzt passiert, macht etwas mit der Gesellschaft. Und da müssen wir alle aufpassen, dass wir nicht permanent mit dem Faktor Angst arbeiten, weil Angst kein guter Ratgeber ist.

SPIEGEL: Sie setzen auf die Vernunft der Menschen?

Ramelow: Jetzt vor einer zweiten Welle zu warnen, die dann gar nicht kommt – das fände ich schwierig. Und dann zu sagen: Es könnte sein, dass die dritte kommt, während die Hälfte der Landkreise null Infektionen hat – das würde mir doch niemand mehr glauben.

SPIEGEL: Wo werden wir Bodo Ramelow künftig mit Mundschutz sehen?

Ramelow: Überall, wo es notwendig ist, wo ich Menschen nahe komme. Das kann beim Autofahren mit der Dienstlimousine sein, deswegen haben die Sicherheits­beamten im Auto ihren Mundschutz. Und ich habe ihn auch immer bei mir, in mehreren Varianten.

SPIEGEL: Herr Ramelow, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

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