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Belgien: Koloniale Gräuel im Kongo – Leopolds Geist wird zur Heimsuchung

June 15
01:07 2020
Beschmierte Leopold-Büste im Park des Afrikamuseums in Tervuren: Schmerzhafter Hohn Icon: vergrößern

Beschmierte Leopold-Büste im Park des Afrikamuseums in Tervuren: Schmerzhafter Hohn

STEPHANIE LECOCQ/EPA-EFE/Shutterstock

Die Steine des Anstoßes stehen etwas versteckt am Wegesrand im Brüsseler Jubelpark. Abseits der Hauptachse des Parks, der für seinen mächtigen Triumphbogen bekannt ist, erhebt sich eine Hommage an ein finsteres Kapitel der belgischen Geschichte: das Denkmal für die ersten Pioniere des Kongo, besser bekannt als "Kongo-Monument".

Auf einem Relief führen Soldaten und Missionare eine Gruppe Afrikaner auf einen bärtigen Weißen zu, der mit huldvoller Geste eine Schwarze empfängt, natürlich barbusig und mit drei Kleinkindern im Arm. Der Bärtige soll wahrscheinlich König Leopold II. darstellen. Dem belgischen Monarchen wird auch der Satz über dem Relief zugeschrieben: "Ich habe das Werk im Kongo im Interesse der Zivilisation und für das Wohl Belgiens unternommen."

Es ist ein Satz, der Afrikanern heute wie schmerzhafter Hohn vorkommen muss. Von 1885 bis 1908 ließ Leopold II. den Freistaat Kongo, seinen persönlichen Besitz, grausam ausplündern. Wie viele Afrikaner dabei ermordet wurden und wie viele Krankheiten zum Opfer fielen, wird nie genau feststellbar sein. Die Schätzungen reichen von drei bis 15 Millionen, rund zehn Millionen gelten gemeinhin als plausibel.

Von alldem erfährt der Betrachter des Denkmals im Jubelpark nichts. Keine Tafel, die das Monument historisch einordnet. Kein Wort über die vielen Toten, die Gefolterten, die Verstümmelten. Dafür stehen jetzt drei andere Worte auf dem Denkmal, aufgesprüht in schwarzer Farbe: "Black Lives Matter".

Bis heute keine Entschuldigung

Jahrzehntelang hat Belgien seine koloniale Vergangenheit verdrängt, so gut es eben ging. Ein Symbol dafür war bis vor Kurzem das prunkvolle Afrikamuseum, das Leopold als eine Art Propagandaschau im Brüsseler Vorort Tervuren bauen ließ – inklusive kongolesischer Dörfer. Viele Kongolesen, die dort lebten und von den Belgiern in einer Art Freilichtmuseum (andere sagen "Menschenzoo") bestaunt wurden, starben bei einer Grippewelle.

Erst Ende 2018 eröffnete das Museum seine neu komplett gestaltete Ausstellung – um sein "rassistisches und pro-kolonialistisches Image abzuschütteln", wie Museumschef Guido Gryseels gegenüber der "New York Times" freimütig einräumte. Statt um koloniale Herrlichkeit geht es nun um eine kritische Auseinandersetzung mit der belgischen Herrschaft im Kongo und um die Natur- und Kulturschätze im Herzen Afrikas. Die vielen Statuen, die heute als rassistisch und abstoßend angesehen werden, stehen im Keller.

Doch einen nationalen Sinneswandel hat die Renovierung des Museums nicht angestoßen. Als eine Expertengruppe der Vereinten Nationen nur wenige Wochen später dem belgischen Staat empfahl, sich endlich für die Gräuel im Kongo zu entschuldigen, geschah nichts. Ein Mitglied der vierköpfigen Uno-Kommission beklagte eine "Mauer des Schweigens". Sie steht bis heute: Weder die belgische Regierung noch das Königshaus haben sich jemals für die Verbrechen im Kongo entschuldigt, geschweige denn Wiedergutmachung geleistet.

"Alltägliche und systematische anti-arabische Stimmung"

Jetzt sorgt ausgerechnet der Tod des Schwarzen George Floyd in den fernen USA dafür, dass die Debatte mit Wucht nach Belgien zurückkehrt. Vergangenes Wochenende demonstrierten rund 10.000 Menschen in Brüssel gegen Rassismus. Kurz darauf wurde das Reiterstandbild Leopolds nahe des belgischen Königspalasts mit Farbe beschmiert, seine Hände waren danach blutrot.

Den Demonstranten geht es längst nicht nur um den Umgang Belgiens mit seiner Geschichte. Rassismus, auch seitens der Polizei, ist in dem Land bis heute ein Thema. Aus Vierteln mit hohem Migranten-Anteil gibt es immer wieder Berichte über schikanöses, teils brutales Vorgehen der Polizei. Vor allem Belgier mit marokkanischem Hintergrund, schreibt die "Brussels Times", bekämen ein "alltägliche und systematische anti-arabische Stimmung" zu spüren.

Mitunter kommt es auch zu Todesfällen. Im April starb Adil, ein 19-jähriger mit marokkanischen Wurzeln, als er einer Kontrolle zu entwischen versuchte und auf dem Motorroller mit einem Polizeiauto zusammenstieß. Im Jahr zuvor kam der 17-jährige Mehdi Bouta auf ähnliche Art ums Leben. 2018 starb ein zweijähriges Kind durch eine Polizeikugel, als die Beamten ein von Irakern gefahrenes Auto verfolgten und das Feuer eröffneten.

Wird Leopold aus dem Stadtbild getilgt?

Die Wut entlädt sich nun an den steinernen Zeugnissen der belgischen Vergangenheit. Auf einem Marktplatz in Antwerpen etwa wurde eine Leopold-Statue angezündet und zwecks Restauration entfernt. Ob sie jemals wieder aufgestellt wird, ist nicht sicher. Inzwischen fordern mehrere Online-Petitionen den Abbau aller Bildnisse des Königs, allein bei change.org kamen bisher fast 80.000 Unterschriften zusammen. Die Brüsseler Verwaltung hat eine Debatte über die Zukunft der Statuen angekündigt. Die Universitäten in Leuven und Mons sind schon weiter: Sie haben Bildnisse des Monarchen kurzerhand verschwinden lassen.

Anderswo wird das schwieriger. Brüssel und andere belgische Städte sind voll von Erinnerungen an die Kolonialzeit. Kein Wunder, hinter dem Bauboom, infolgedessen unter anderem der Jugendstil Victor Hortas zu voller Blüte kam, steckte das Geld, das Leopold II. und seine Schergen vor allem mit dem Abbau von Naturkautschuk im Kongo machten, dem Rohstoff für Gummireifen.

"In Belgien war Leopold ein konstitutioneller Monarch mit begrenzten Kompetenzen, im Kongo ein absolutistischer Fürst", schreibt David Van Reybrouck in seinem Standardwerk "Kongo – eine Geschichte". Vom fernen Brüssel aus setzte der König ein "Blutbad von unglaublichem Ausmaß" in Gang, heißt es, Folge seiner "perfiden, raubgierigen Ausbeutungspolitik". Wer die teils absurd hohen Kautschuk-Erntequoten nicht erfüllte, wurde mit der Chicotte malträtiert, einer Peitsche aus Nilpferdhaut, die tiefe Wunden riss – oder gleich erschossen.

Abgehackte Hände als Währung für Kautschuk

Die heimischen Paramilitärs wurden von den Belgiern angehalten, für jede verschossene Kugel die Hand des toten Opfers vorzulegen. Am Ende waren abgehackte Hände eine Art Währung für Kautschuk. Zwischen Dörfern soll es sogar Kriege um Hände gegeben haben, da die Erntequoten nicht erfüllbar waren. "Idiotisch" sei das, soll Leopold gezürnt haben. "Ich würde alles andere von ihnen abschneiden, aber nicht die Hände. Das ist das einzige, was ich im Kongo brauche."

Erst als immer mehr Berichte über die Gräueltaten öffentlich wurden und die internationale Empörung wuchs, annektierte die belgische Regierung 1908 den "Freistaat Kongo" und verwandelte das Land in die Kolonie Belgisch Kongo. Die schlimmsten Grausamkeiten fanden ein Ende, und die Geschichtsschreibung war erst einmal gnädig mit Leopold: Er ging vor allem als großer Baumeister in die Annalen ein. Die Wirren des Ersten Weltkriegs überdeckten schon bald die dunklen Seiten seiner 44 Jahre langen Herrschaft.

Kritik von außen hört man in Belgien auch heute nicht gern, schon gar nicht von den Deutschen, die das Land im Ersten Weltkrieg verwüstet und im Zweiten Weltkrieg komplett besetzt hatten. Doch eine gemeinsame Idee für den Umgang mit der Vergangenheit gibt es in dem traditionell zersplitterten Land nicht. Während die einen alle Leopold-Statuen aus der Öffentlichkeit verbannen wollen, hat etwa der Stadtrat in Ostende – auch so eine Stadt, die Leopold viele Prachtbauten verdankt – den Umgang mit der dortigen Leopold-Statue sogar im Koalitionsvertrag festgeschrieben. Das Denkmal, so die Idee, soll bleiben, aber mit Informationen ergänzt werden.

"Es entsteht eine landesweite Bewegung"

Auch der Brüsseler Arbeitskreis Geschichte hält offenbar nichts davon, Denkmäler zu entfernen. Die Kolonialzeit sei nur eines von vielen Kapiteln der belgischen Geschichte, schreibt der Verein über das Kongo-Denkmal im Jubelpark. Nur sei es heute allzu modisch, "Vergebung oder Buße für vergangene Ereignisse zu verlangen, für die heutige Generationen in keiner Weise verantwortlich sind."

Selbst in der belgischen Königsfamilie hat Leopold seine Verteidiger. "Sie sollten bedenken, was er für Belgien getan hat", sagte Prinz Laurent, das skandalumwitterte enfant terrible des Königshauses, im Interview mit der Nachrichtenagentur Belga über seinen Großonkel Leopold II. "Er war nie im Kongo. Ich sehe also überhaupt nicht, wie er die Menschen dort hätte leiden lassen können."

Die Aktivistin Marie-Fidèle Dusingize, die hinter der Aktion gegen das Leopold-Bildnis in Mons steckt, verlangt dagegen, die Vergangenheit endlich aufzuarbeiten. "Es ist eine landesweite Bewegung, die da entsteht und die Gerechtigkeit für die afrikanischstämmigen Bürger fordert", sagte Dusingize im belgischen Rundfunk. Es gehe nicht darum, die Geschichte vergessen zu machen, sondern an sie zu erinnern.

Dass ein Vergessen nicht möglich ist, auch dafür findet man ein Symbol im Afrikamuseum von Tervuren. Dort sind die Statuen und Inschriften zur Verherrlichung der Kolonialzeit teils in die Wände eingelassen. Herausmeißeln, sagte Museumsdirektor Gryseels, komme nicht infrage. Die Wände stehen unter Denkmalschutz.

Icon: Der Spiegel

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