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Angriffe und Stromausfälle: Die Stimmung in der Ukraine ist gedrückt wie nie

June 09
12:36 2024

Politik

Die Idylle trügt: abendlicher Blick in Kiew auf den Dnipro.

Die Idylle trügt: abendlicher Blick in Kiew auf den Dnipro.

Die Lage könnte noch schlimmer sein, aber sie ist schon schlimm genug. Und so ist die Stimmung in der Ukraine derzeit auf einem Tiefpunkt. Zugleich ist den Ukrainern klar: Putins Zermürbungsstrategie wird nicht aufgehen.

Mittlerweile sind die Einwohner daran gewöhnt. In den Lärm der Benzingeneratoren, die im historischen Kiewer Stadtteil Podil an so gut wie jeder Ecke stehen, vor Cafés, Büros und Bankfilialen, mischen sich immer wieder die Luftalarmsirenen. Man kennt die unangenehme Geräuschkulisse aus dem ersten, harten Kriegswinter. Und doch hätte, trotz der Brutalität des seit mehr als 830 Tagen andauernden russischen Angriffskrieges, noch vor wenigen Monaten niemand damit gerechnet, dass der Sommer in Podil so klingen würde.

Denn im vergangenen Winter gab es vergleichsweise wenig Stromausfälle. Als Russland die ukrainische Energieinfrastruktur dann Ende März mit einer neuen, massiven Angriffswelle überzog, kam das überraschend. Immer häufigere Stromausfälle waren die Folge – eine Situation, die sich in den vergangenen Tagen noch einmal verschlechtert hat. Vier Stunden garantiert ohne Strom, drei Stunden eventuell mit Strom, dann zwei Stunden sicher mit Elektrizität, das ist für die meisten Haushalte in der Hauptstadt der Rhythmus des Tages. Wenn das Netz überlastet ist, kommen spontane Abschaltungen dazu.

Ein Vorgeschmack auf den Winter

Zwar dürfte sich die Situation in der kommenden Woche etwas verbessern, wenn zwei Atomreaktoren, die derzeit gewartet werden, wieder Strom liefern und ein Kabel aus der Slowakei wieder ans Netz angeschlossen ist, so dass von dort wieder Stromimporte fließen können. Doch die aktuelle Krise ist ja nur ein bitterer Vorgeschmack auf den Winter, der noch schwerer zu werden droht als der Winter 2022/2023. Denn Russland hat alle ukrainischen Wärmekraftwerke entweder völlig funktionsunfähig gemacht oder zumindest beschädigt. Zwei wichtige Wasserkraftwerke sind vorerst unbenutzbar. Mittlerweile greifen die Russen sogar Solaranlagen an. Auch das Atomkraftwerk Saporischschja ist weiterhin besetzt.

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All das kommt zu einer Zeit, in der die Stimmung in der Ukraine ohnehin so gedrückt ist wie nie zuvor in diesem Krieg. Das war zwar – abgesehen von der akuten Stromkrise – zu erwarten, ist aber doch eine Herausforderung für die ukrainische Politik und Gesellschaft. Denn zu viele Aspekte summieren sich gleichzeitig. Militärisch, aber auch psychologisch ist es mühsam, die Front halten zu müssen und schon seit Längerem keine bedeutenden Erfolge mehr erzielt zu haben. Auch nach der Eröffnung der neuen Front im Norden von Charkiw konzentrieren sich die Russen auf die Region Donezk. Dort kommen sie zwar nicht mehr so schnell voran wie vor einigen Monaten, sind aber noch immer klar in der Offensive.

Dennoch ist die Lage nicht komplett katastrophal. Dass die Zeichen für den ukrainischen Verteidigungskampf 2024 vor allem auf das Durchhalten stehen würden, war im Voraus klar, und fast die Hälfte dieses schwierigen Jahres ist bereits rum. Es ist ein offenes Geheimnis, dass der Versuch einer größer angelegten Offensivoperation im Sommer sowie im Herbst des vergangenen Jahres vor allem durch Munitionslieferungen aus südkoreanischen Reserven möglich wurde. Das Hochfahren der Munitionsproduktion im Westen wird wohl erst gegen Jahresende ein Niveau erreichen, das ausreicht, um Russland die militärische Initiative zumindest zwischenzeitlich wieder wegzunehmen.

Erleichterung für Charkiw

Dass Russland seit Oktober fast ununterbrochen angreift, hat nicht zuletzt damit zu tun, dass die ukrainische Armee wegen der politischen Krise in den USA noch weniger Munition als sonst hatte und das russische Offensivpotenzial im Winter nicht ausreichend ausschöpfen konnte. Dazu kommt, dass die Ukraine erst jetzt die Erlaubnis bekam, die russischen Truppen auf russischem Territorium mit westlichen Waffen anzugreifen, was den Russen bessere Karten für die Offensivoperation im Norden des Bezirks Charkiw gab.

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Politik 09.06.24 Kaum noch schweres Gerät Ukrainer: Drängen russische Vorstöße im Norden zurück

Die Aufhebung des Verbots hat schon jetzt dafür gesorgt, dass die Millionenstadt Charkiw deutlich weniger von Russland beschossen wird als im Mai, als die Anzahl der russischen Angriffe sich im Vergleich zum April beinahe verdreifacht hatte. Den Ukrainern ist sehr bewusst, dass nun zwar endlich richtige Entscheidungen getroffen wurden, aber dass zahlreiche Leben von Soldaten und Zivilisten hätten gerettet sowie viele Zerstörungen vermieden werden können.

Anders als häufig dargestellt, gehen der Ukraine nicht die Soldaten aus. In den ukrainischen Verteidigungskräften dienen insgesamt rund eine Million Menschen. Aber immer häufiger müssen auch Männer eingezogen werden, die keinen militärischen Hintergrund haben. Wenn Russland im nächsten Jahr mit mehr Munition und im besten Fall an mehreren Frontabschnitten zurückgeschlagen werden soll, dann müssen schon jetzt neue Brigaden gebildet und ausgebildet werden. Im dritten Kriegsjahr ist das nicht immer leicht. Das Kommando der Landstreitkräfte spricht von zehn neuen Brigaden, die man gerne vorbereiten würde.

Unsicherheit rund um die Mobilisierung

Die am 18. Mai in Kraft getretene Mobilisierungsreform spielt dabei eine kleinere Rolle als im Ausland meist angenommen – die Mobilmachung lief bereits Anfang des Jahres stärker als in der zweiten Jahreshälfte 2023. Früher war es aber für formell wehrpflichtige Ukrainer möglich, ohne besondere Konsequenzen für Einberufungsämter unsichtbar zu bleiben. Nun müssen sie sich bis zum 16. Juli in das Wehrregister eintragen. Sonst drohen Strafen in Höhe von im Durchschnitt umgerechnet 500 Euro, unter Umständen auch ein Fahrverbot – das ist nicht nichts, aber auch keine massive Repression.

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Politik 07.06.24 Munz über Russlands neue Pläne Kreml will besetzte Gebiete "nie wieder zurückgeben"

Theoretisch gibt es die Möglichkeit, sich beim Bürgeramt oder in einer dafür entwickelten App einzutragen, statt vor Ort in einem Einberufungsamt. Um die nötigen Militärdokumente zu bekommen, muss der Wehrpflichtige trotzdem einen Medizincheck absolvieren, was nur im Einberufungsbüro geht. Weil diese aktuell massiv überlastet und überfordert sind, dauert das oft Wochen, wenn nicht Monate – und eigentlich ist es naheliegend, dass die Frist von 60 Tagen bis zum 16. Juli verlängert werden muss. Allein die Unsicherheit, ob diese Verlängerung wirklich kommt und wie hart das Gesetz durchgesetzt wird, wenn das nicht der Fall sein, sorgt für Unruhe. Es ist nicht nur die natürliche Angst vor dem eventuellen Fronteinsatz, sondern der Zustand der Unklarheit, der den Menschen Sorgen bereitet.

Stromtarife wurden erhöht, Heizung und Steuern dürften folgen

Hinzu kommen mehrere wirtschaftliche Faktoren. So war es aufgrund von massiven Zerstörungen alternativlos, dass ab dem 1. Juni die Stromtarife um rund 60 Prozent erhöht würden. Auch die Heiztarife und die Steuern werden mit großer Wahrscheinlichkeit noch angehoben. Da die Ukraine die finanzielle Hilfe aus dem Westen nicht für die Bezahlung der Soldatenlöhne verwenden darf, ist die Mobilisierung teuer und nimmt zudem Steuerzahler aus dem System. So ist ein Budgetloch entstanden, das geschlossen werden muss. Im Gespräch waren unterschiedliche Konzepte, die alle zu hohen moralischen Sprengstoff hatten. An einer einfachen Steuererhöhung führt daher kein Weg vorbei.

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Politik 07.06.24 Milliarden fürs Militär Putin rüstet Russland für jahrelange Kriegswirtschaft

Unter diesen Umständen macht der russische Machthaber Wladimir Putin aus dem Sinn seiner Zermürbungstaktik keinen Hehl – nur häufig übersehen, was er meint, wenn er von seiner angeblichen Verhandlungsbereitschaft spricht. Putin bezieht sich auf die Verhandlungen vom März 2022 in Istanbul und auf den Projektentwurf eines angeblichen Friedensdeals, datiert vom 15. April 2022. Die russische Sichtweise in diesem Entwurf war allerdings, dass die ukrainische Armee auf 85.000 Mann reduziert werden soll und die Ukrainer nur Waffen besitzen dürfen, die nicht weiter als 40 Kilometer schießen können. Vor dem vollumfänglichen russischen Angriff bestand die ukrainische Armee aus 300.000 Mann. Außerdem sollte die Ukraine zwar "Sicherheitsgarantien" erhalten, aber bei deren Umsetzung hätte Russland eine Art Vetorecht.

Waffenstillstand zu russischen Bedingungen lehnen die Ukrainer ab

Dass Putin morgen oder übermorgen einem Waffenstillstand unter solchen oder ähnlichen Bedingungen zustimmen würde, ist durchaus wahrscheinlich, denn für einen neuen russischen Angriff wären sie vielversprechender als die Ausgangslage vor dem 24. Februar 2022. Russland hat sich zudem im September 2022 vier weitere ukrainische Regionen in seine Verfassung geschrieben. Aus diplomatischen Kreisen ist zu hören, dass es sich bei den russischen Bedingungen um eine zeitversetzte Kapitulation handelt, nach der es einen ukrainischen Staat in einigen Jahren nicht mehr geben würde. Denn dieser würde sich nicht verteidigen können.

So zielt die russische Zermürbungsstrategie vor allem darauf, dass die Ukrainer irgendwann sagen: Wir haben genug, unterschreibt etwas – und beendet es. Dabei spielt auch der kommende, zweifellos schwere Winter eine Rolle. Dass Putin damit erfolgreich ist, ist dennoch unwahrscheinlich. Denn in der ukrainischen Bevölkerung kommen bisher weder die russischen Verschwörungstheorien über die angebliche Illegitimität von Präsident Wolodymyr Selenskyj an, noch die wilden Theorien darüber, dass die Stromausfälle etwas mit einem heimlichen Stromexport in die EU zu tun hätten.

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Politik 29.05.24 "Mit wem sollen wir verhandeln?" Warum Putin Desinformation über Selenskyj verbreitet

Laut einer Umfrage des Kiewer Internationalen Soziologie-Instituts vom Februar glauben zwar 72 Prozent der Ukrainer, dass ihr Land neben militärischen auch nach diplomatischen Wegen für die Beendigung des Krieges suchen muss. Aus der Umfrage und aus anderen Studien dieser Art geht jedoch deutlich hervor, dass ein Waffenstillstand zu russischen Bedingungen für die absolute Mehrheit der Ukrainer nicht infrage kommt. Dagegen wäre ein einfacher Waffenstillstand vermutlich für viele Menschen akzeptabel, obwohl rund ein Fünftel der Bevölkerung jegliche Gespräche mit Russland kategorisch ablehnt.

Eines hat sich in diesem Krieg nicht verändert: Damit Russland vor seinen Vorbedingungen abrückt, braucht die Ukraine militärische Stärke. Daher ist eine Einigung 2024 nicht in Sicht. Die aktuelle Phase des Kriegs ist zwar eine der schwierigsten in der ukrainischen Geschichte. Aber die Ukrainer werden weiter durchhalten.

Quelle: ntv.de

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