Afghanistan: Die Mädchenschule, in die auch Taliban-Töchter gehen

Rund 30 Schülerinnen unterrichtet ur-Rahman in seinem Wohnzimmer
Emran Feroz
Das Dorf Badikhel liegt weit entfernt von der afghanischen Hauptstadt Kabul. Hierher, in die Provinz Khost nahe der pakistanischen Grenze, verschlägt es nicht viele Menschen.
Rund 250 Familien leben in Badikhel. Unter ihnen Habib ur-Rahman. Er ist Anfang Fünfzig und war Pilot bei der afghanischen Armee, bis er Herzprobleme bekam. Er zog mit seiner Familie zurück in sein Heimatdorf, wo er seit rund einem Jahr eine kleine Mädchenschule betreibt – ehrenamtlich und in seinem eigenen Haus.
Tagsüber unterrichtet ur-Rahman rund 30 Schülerinnen in seinem Wohnzimmer, abends schiebt er die Tische und Stühle zur Seite und breitet für sich und seine Familie die Matratzen zum Schlafen aus.
Es ist eine private Bildungsinitiative in einem Land, in dem radikale Taliban Frauen unterdrückten, Mädchenschulen schlossen und ihnen jegliche Bildung und Arbeit untersagten. Heute schicken auch aktive Taliban-Mitglieder aus der Region ihre Töchter, Schwestern und Nichten in ur-Rahmans Hausschule. Und auch andere, zunächst skeptische Dorfbewohner überzeugte ur-Rahman.
Bei ihm lernen sie nun täglich von morgens bis zum Mittagsgebet Rechnungswesen, Geschichte, Geografie, Islamkunde und ihre Muttersprache, Paschtu. Habib ur-Rahman ist ein ruhiger Lehrer, Disziplin ist ihm trotzdem wichtig. Die Schülerinnen sind lebhaft und engagiert, einige von ihnen diskutieren viel und gern.
Nach Schulschluss und dem Mittagsgebet herrscht in Khost bis zum Mittagessen eine zweistündige Siesta, in der meist alles stillsteht.
Offiziell hat die afghanische Regierung im Distrikt das Sagen, doch wie in den meisten ländlichen Gebieten Afghanistans reicht auch hier der Einfluss der radikalen Taliban hinein. Während des Taliban-Regimes wäre eine Mädchenschule, noch dazu unter der Leitung eines Mannes, kaum denkbar gewesen. Doch in den vergangenen zwanzig Jahren haben sich auch die Dörfer verändert.
Laut ur-Rahman haben die Extremisten aus dem Dorf kein Problem mit seiner Schule. "Ihre weiblichen Verwandten besuchen meine Schule, während sie kämpfen und sich verstecken. Die Taliban-Kämpfer leben nicht mehr in unserem Dorf, doch sie haben die Mädchen zum Schulbesuch ermutigt. Ihre Bildung liegt ihnen am Herzen", sagt er.
Als die Taliban in den Neunzigerjahren an die Macht kamen, setzten sie ihre extremistisch-patriarchalen Wertvorstellungen in die Praxis um. Frauen durften keine Schulen und Universitäten besuchen. Nicht mal auf die Straße gehen durften sie ohne die Begleitung eines engen männlichen Verwandten.
Heute hält sich die Taliban-Führung bewusst vage. "Wir wollen nicht die Bildung von Mädchen und Frauen oder das Ausüben ihrer Arbeit verbieten. Allerdings haben wir islamische Normen, die uns wichtig sind. Wir leben nicht im Westen", betonte etwa Sher Mohammad Abbas Stanekzai, der Leiter des Taliban-Büros in Doha, in Interviews.
Die Mädchenschule im Dorf Badikhel zeigt, wie paradox die Situation vor Ort sein kann. Während die männlichen Verwandten der Schülerinnen diese in die Schule schicken, drohten andere Taliban-Kämpfer Habib ur-Rahman Konsequenzen an.
Beobachter und Kenner der Region sind vom widersprüchlichen Verhalten der Taliban nicht überrascht. Laut der politischen Ethnografin Orzala Nemat, die die Afghanistan Research and Evaluation Unit (AREU) in Kabul leitet, verhielten sich die Extremisten bereits Ende der Neunzigerjahre ähnlich: "Die Taliban waren nie in der Lage, ihre eigenen Männer von ihren im Grunde genommen zutiefst unislamischen Anordnungen, wie der Schließung von Mädchenschulen, zu überzeugen", sagt sie. Auch angesichts der Tatsache, dass die aktuelle politische Führung der Extremisten im Golfemirat Katar verweilt – und dort wahrscheinlich ihre eigenen Töchter in klimatisierte Schulen und Universitäten schickt.
In Khost gibt es mittlerweile nicht nur Schulen, sondern auch eine Universität. Habib ur-Rahmans beide Söhne studieren dort. "Einer wird Arzt, der andere Ingenieur. Sie machen mich sehr stolz", sagt ur-Rahman. Für die Schule ihres Vaters besorgen die beiden auch mal neue Lehrbücher in der Stadt oder springen als Ersatzlehrer ein.
Die Universität ist auch das Ziel von ur-Rahmans Schülerinnen. "Eines Tages will ich an die Uni. Ich will Ärztin oder Lehrerin werden und meinem Volk dienen", sagt Latifa, deren Bruder ein Taliban-Kämpfer ist. Ihr Abitur müsste sie allerdings in der Stadt machen. Habib ur-Rahmans Hausschule geht nur bis zur sechsten Schulstufe.
Unterstützt wird Habib ur-Rahman von fast niemandem. Die wenigen Utensilien in seinem Klassenzimmer kaufte er von Spenden der Dorfbewohner. In den afghanischen Dörfern hat das Fehlen von Bildung nämlich nicht nur mit den Taliban und ihrem Gedankengut zu tun. "Ich frage mich, ob die Regierung überhaupt weiß, dass ich in meinem eigenen Haus eine Schule betreibe. Viele Menschen sprechen über Schulen und Universitäten in der Hauptstadt, doch was ist mit den Dörfern?"
Allein seitens der US-Regierung wurde zwischen 2002 und 2015 rund eine Milliarde Dollar in das afghanische Bildungssystem gesteckt. Man wollte Hunderte von neuen Schulen errichten und Klassenzimmer mit Schülerinnen füllen. Doch stattdessen füllte viel von dem Geld die Taschen korrupter Kriegsfürsten und Politiker. Viele Schulen blieben völlig leer, während gleichzeitig Gelder für sie akquiriert wurden.
Recherchen der US-amerikanischen Investigativjournalistin Azmat Khan zeigten, dass im Jahr 2015 mindestens 1100 Schulen vom afghanischen Bildungsministerium betrieben wurden. Doch nur in einem Bruchteil von ihnen wurde tatsächlich unterrichtet. Diese "Geisterschulen", wie die Schulen von Kritikern genannt werden, existierten lediglich auf dem Papier, um Hilfsgelder zu waschen. In vielen Fällen wurde bewusst bei der Anzahl der Schülerinnen übertrieben, damit der westliche Geldfluss erhalten bleibt.
"Unsere Schule ist real, doch niemand scheint sich dafür zu interessieren. Westliche Hilfsgelder haben diesen Fleck Afghanistans noch nie erreicht", sagt ur-Rahman, und er weiß, dass sich daran auch in naher Zukunft wohl nichts ändern wird.
Seit die USA Ende Februar einen Abzugsdeal mit den Taliban unterzeichnet haben, ist klar, dass die militante Gruppierung früher oder später zurückkehren und in irgendeiner Form an der Macht in Kabul beteiligt wird.
Vor allem in den urbanen Zentren wie Kabul befürchten viele Beobachter und Afghanen einen Rückfall in alte, düstere Taliban-Zeiten; samt neuen Bildungsverboten für Frauen und Mädchen, obwohl die Kabuler Regierung von Präsident Ashraf Ghani und die amerikanischen Unterhändler verdeutlicht haben, dass sie derartige Praktiken nicht dulden würden.
"Der Gang zur Schule war für afghanische Frauen schon immer schwierig. Doch nun bin ich optimistisch, dass sich die Dinge langsam verändern. Ich bin glücklich, dass ich in die Schule gehen darf und dort vieles lernen kann", sagt Mahbuba, eine von Habib ur-Rahmans Schülerinnen.
Anfangs seien einige ihrer Familienmitglieder gegen ihren Schulbesuch gewesen. Mittlerweile werde sie allerdings von allen unterstützt: "Sie spornen sogar andere Verwandte an, ihre Töchter ebenfalls in die Schule zu schicken. Das sollte selbstverständlich sein, denn wir sind ein wichtiger Teil der afghanischen Gesellschaft."
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