500 verschiedene Leistungen: Millionen Bedürftige scheitern am komplizierten Sozialstaat
Politik
Die Vorschriften und Verfahren sind so kompliziert, dass oft mehr als die Hälfte aller Bürger mit Anspruch auf der Strecke bleiben. Doch die Kommission, die bis Jahresende Abhilfe schaffen soll, ist nicht einmal berufen.
Zahl und Umfang der Sozialleistungen in Deutschland scheinen außer Kontrolle zu sein. Nannte die eigens vom Bundespräsidenten berufene Expertenkommission "für einen handlungsfähigen Staat" zuletzt die Zahl von gut 170 verschiedenen Sozialleistungen, kommen KI-gestützte Untersuchungen des Münchner ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung inzwischen auf mehr als 500.

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Andreas Peichl, Wirtschaftsprofessor in München und Experte des ifo-Instituts sagt bei RTL und ntv: "Wir haben tools wie ChatGPT das Sozialgesetzbuch lesen lassen und andere Gesetze. Und dann eine Liste erstellen. Ich fürchte, wir haben in der Tat mehr als 500 Sozialleistungen, die man einzeln beantragen kann." Einen "Sanierungsfall" nennt Peichl darum das deutsche Sozialsystem: "Wir haben einfach zu viele Leistungen. Wir wissen gar nicht, wie diese Leistungen wirken, ob sie zielgerichtet sind, ob sie wirklich die Menschen erreichen, die auch wirklich bedürftig sind." Nur zu einem Bruchteil der Leistungen gebe es entsprechende Daten.
Wirrwarr an Leistungen
Die Leistungen werden von rund 30 Behörden verwaltet, die oftmals aber nicht untereinander vernetzt sind und in den rund 400 Landkreisen mit unterschiedlichen Begrifflichkeiten arbeiten. Ein weiteres zentrales Problem ist offenbar, dass die Leistungen stark aufgesplittert sind. Beispiel Pflege, laut Peichl: "Man bekommt Hilfe zur Unterstützung im Haushalt, man bekommt Pflegegeld, man bekommt Pflegesachleistungen, man bekommt Kurzzeitpflege, man bekommt Pflegehilfsmittel und verschiedene andere Leistungen wie Hilfe zur Renovierung der Wohnung."

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Viele dieser Leistungen müssten regelmäßig einzeln beantragt werden, was die Verwaltungskosten massiv in die Höhe treibe. Ähnlich beim Bürgergeld. Es sei "keine Seltenheit", so Peichl, "dass ein Bürgergeld-Bescheid 200 Seiten hat, weil man so viele einzelne Punkte bekommen kann".
Viele Anspruchsberechtigte profitieren nicht
Laut Koalitionsvertrag soll eine Kommission bis Jahresende jede Sozialleistung auf Effizienz und Nutzen prüfen. Allerdings ist nach ntv-Informationen die Kommission noch nicht einmal berufen. Offenbar gibt es hinter den Kulissen Abstimmungsschwierigkeiten.
Die verwirrende Vielzahl von Leistungen scheint zudem die Bedürftigen von Anträgen abzuhalten. Laut ifo-Experte Peichl werde zum Beispiel das Wohngeld nur von 30 Prozent der Berechtigten tatsächlich in Anspruch genommen. Peichl: "Das heißt, die Nicht-Inanspruchnahmequote ist bei 60 bis 70 Prozent." Und das sei noch eine der "bekannteren Leistungen". Bei weniger bekannten Leistungen muss man demnach mit noch schlechteren Quoten rechnen. Fazit Peichl: "Idealerweise würde man komplett neu starten." Das sei politisch aber schwierig.
Quelle: ntv.de