Verfassungsvotum in Russland: Wladimir Putin hat bekommen, was er wollte

Wladimir Putin bei der Abstimmung am 1. Juli – ohne Maske
Alexei Druzhinin/ Sputnik/ Kremlin Pool/ AP
Wer tatsächlich glaubte, dass bei der Abstimmung über die Verfassungsänderung in Russland ein Mindeststandard demokratischer Regeln eingehalten würde, der wurde eines Besseren belehrt. Die Zentrale Wahlkommission veröffentlichte bereits erste Ergebnisse der Volksbefragung, da wurde in Moskau und weiter westlich im Land noch gewählt. Mehr als 70 Prozent der Wählerinnen und Wähler unterstützten die Reform von Wladimir Putin, verkündete die Behörde.
Was für eine Botschaft an die Gegner der größten Verfassungsänderung in der Geschichte des Landes: 'Ihr seid sowieso in der Minderheit'. Und: 'Wir pfeifen auf übliche Regeln, das Votum läuft nach unseren Maßstäben, außerhalb des üblichen Wahlrechts ab'.
78 Prozent Zustimmung für die Reform meldete die Wahlbehörde am Mittwoch nach Auszählung aller Stimmen. Nur in einer einzigen Region sollen die Wählerinnen und Wähler nach offiziellen Angaben die Verfassungsreform abgelehnt haben. Präsident Putin hat damit bekommen, was er wollte: Er kann theoretisch bis 2036 Präsident bleiben. Seine bisherigen Amtszeiten werden auf Null gesetzt, so als gebe es seine bisherigen vier nicht. Dazu bekommt er noch mehr Einfluss bei der Besetzung politischer Ämter und Posten in der Justiz. Und bei allem kann Putin immer darauf verweisen, das Volk habe es ja so gewollt. Was mehr als zynisch ist.
Denn was die Russen wirklich wollen, zählt schon lange nicht mehr. Es ist auch kaum noch überprüfbar angesichts der Propaganda der omnipräsenten Staatsmedien, des Ausschlusses wirklicher politischer Gegner, der Manipulationen bei Wahlen. Putin hat immer schon die Wahlergebnisse erreicht, die er wollte, zuletzt vor zwei Jahren knapp 77 Prozent bei der Wiederwahl zum Präsidenten. 70 Prozent scheint eine wichtige Marke zu sein: Unter der scheint er es nicht mehr zu machen.
Ein Kreuz – und Prämien
Diese Abstimmung stellt eine traurige Zäsur in der nicht gerade rühmlichen Geschichte von Wahlen unter Putin dar. Um Putin die Mehrheit zu organisieren, senkte der Kreml nun seine ohnehin schon niedrigen Wahlstandards. Er ließ eine Abstimmung über die Verfassungsreform abhalten, die kein Referendum sein durfte. Denn dann hätten die Russinnen und Russen über die mehr als 200 Verfassungsänderungen einzeln abstimmen müssen: von Rentenerhöhungen, Russisch als "staatstragende" Sprache, der Ehe als Verbindung einzig von Mann und Frau bis hin zu dem auf Null-Setzen von Putins Amtszeiten. So aber durften sie nur ein einziges Kreuz machen: Billigen Sie die Änderungen? "Ja" – "Nein".
Den Behörden war jedes Mittel recht, um möglichst viele Menschen an die Urnen zu bekommen. Massiv wurden wieder Beamte und Mitarbeiter der Staatsbetriebe genötigt, an der Abstimmung teilzunehmen und darüber Rechenschaft abzulegen. In sogenannten Informationskampagnen wurde das "Da" – "Ja" hervorhoben – etwa in Wörtern wie Naroda – das Volk. Es wurden Lotterien mit Preisen wie Wohnungen, Traktoren und Prämien veranstaltet, alles natürlich zum Wohl des Volkes.
Ohne Wahlbeobachter
Erstmals wurde "vorab" votiert, sechs Tage lang vor dem eigentlichen Hauptwahltag am 1. Juli – offiziell aus Sicherheitsgründen wegen der Corona-Pandemie. Und so wurde auch auf Baumstämmen, Karussells von Spielplätzen und sogar in Kofferräumen von Autos abgestimmt. Geheim kann da kaum gewählt worden sein. Urnen wurden zudem in Betriebe und Wohnhäuser getragen – Wahlbeobachtung war schlicht nicht möglich, wie die unabhängige Organisation Golos kritisierte. Mehr als 80 Prozent der Wähler stimmte vor dem 1. Juli ab. Dazu gab es in zwei Regionen, darunter Moskau, Online-Voten, auch diese kaum überprüfbar: Einige Wähler konnten sowohl on- als auch offline abstimmen.
Mit freien, demokratischen Wahlen hat dieses Schauvotum kaum noch etwas gemein, das als Testlauf für kommende Abstimmungen gilt. 2021 sind Dumawahlen. Der Anschein von demokratischen Prozeduren, auf den Putin lange Wert legte, er zählt nach 20 Jahren seiner Macht nicht mehr.
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