Aktienmarkt und Corona-Krise: Millennials investieren in Pleiteunternehmen

New York Stock Exchange: Kauf, wenn die Kurse fallen
Jeenah Moon/ AFP
In den vergangenen Wochen haben 160 Millionen Amerikaner von ihrer Regierung einen Scheck bekommen. Die meisten haben mit den bis zu 1200 Dollar pro Person die Miete, Autorate und andere Rechnungen bezahlt, oder sie polsterten ihre Ersparnisse auf. Doch ein Teil der Empfänger fand für das Helikoptergeld eine kreativere Verwendungsmöglichkeit: ab ins Börsencasino. Ein Prozent der Amerikaner sagen in einer Umfrage des Instituts YouGov, sie hätten mit der unverhofften Staatsknete Aktien gekauft. Und zwar nicht mit Blick auf die Altersvorsorge, sondern spekulativ.
Auch den 22-jährigen Marketing-Absolventen Bryan Quevedo, der sich als Lkw-Fahrer durch die Wirtschaftskrise hangelt, hat Covid-19 zum Zocker gemacht. Kaum war der Scheck in seinem Briefkasten, orderte Quevedo für 1000 Dollar Hertz-Aktien, wie er der Nachrichtenagentur Reuters erzählte. Kurz zuvor hatte der Autovermieter die Pleite erklärt, aber Quevedo focht das nicht an. Im Gegenteil: Plötzlich war die Aktie, die im Februar noch mit mehr als 20 Dollar notiert hatte, spottbillig zu haben. Ab jetzt könne der Kurs nur wieder steigen, analysierte Quevedo. Und kaufte.
Der Corona-Absturz hat in Amerika eine neue Klasse von Spekulanten geschaffen, die auf ein altes Börsenmotto setzen: "Buy the f*cking dip" oder auch #BTFD, also: Kauf, wenn die Kurse fallen. Für den Run der Kleinanleger gibt es verschiedene Erklärungen: Viele Ökonomen machen die Notenbank verantwortlich, die mit ihren Billionen-Programmen zum Garanten unkaputtbarer Finanzmärkte geworden sei. Befeuert wird die Lust auf den Aktienerwerb dadurch, dass Onlinebroker wie Charles Schwab mittlerweile auf Provisionen ganz verzichten. "Investieren für jedermann" wirbt die bei Millennials besonders beliebte App Robinhood um die Dollars der Massen.
Ersatz für Videogames und Sportwetten?
Manche Beobachter allerdings argwöhnen, dass hinter der Kleinanleger-Hausse einfach Langeweile von jungen Leuten steckt, die wegen der Pandemie wochenlang zu Hause eingesperrt waren: "Die Millennials und Gen Z ersetzen Videogames und Sportwetten durch eine neue Mode: den Aktienmarkt", schimpfte Dion Rabouin, Finanzexperte beim Nachrichtenportal Axios.
Der Beratungsfirma BCA Research zufolge haben Kleinanleger allein in den ersten vier Monaten dieses Jahres drei Millionen neue Konten bei Robinhood eröffnet, ein Plus von 30 Prozent. Zehn Millionen Freizeitzocker sind nun auf der App unterwegs. Sie machen Jagd auf alles, was billig ist – oder zumindest billig erscheint. Sie kaufen Amazon und Apple, aber vor allem wetten sie auf Unternehmen, deren Geschäftsmodell Covid-19 ins Wanken gebracht hat: Kreuzfahrtgesellschaften, Fluglinien oder auch sogenannte REITs, die in Renditeimmobilien investiert sind. Die Zahl der Robinhood-Anleger, die den Kreuzfahrtanbieter Norwegian im Portfolio haben, ist heute 365 Mal so hoch wie im Februar.
Als besonders heißer Tipp gelten in der Szene die Zombies der Corona-Wirtschaft: Pleitiers wie die Einzelhandelskette J.C. Penney, das Ölunternehmen Whiting Petroleum oder eben Hertz. Dem unabhängigen Dienst Robintrack zufolge hielten vor der Insolvenz des Autovermieters am 18. März 3500 Robinhood-Kunden Hertz-Aktien. Am 14. Juni waren es etwa 50 Mal so viele. Diese Nachfrage sorgte dafür, dass der Kurs wieder zu steigen begann.
Welcher Feierabend-Investor liest schon Emissionsprospekte?
Das Hertz-Management erkannte die Chance auf eine Frischzellenkur junger Spender – und holte sich beim Konkursgericht das Go für den Verkauf neuer Aktien im Umfang von bis zu einer Milliarde Dollar. Vorschriftsmäßig wies das mit fast 20 Milliarden Dollar verschuldete Unternehmen im Börsenprospekt darauf hin, dass die neuen Anteilsscheine durch die Insolvenz wahrscheinlich wertlos würden – aber welcher Feierabend-Investor liest schon Emissionsprospekte? Erst eine Intervention der Börsenaufsicht SEC beendete den Spuk.
Professionelle Marktgurus verfolgen das Geschehen mit einer Mischung aus Entsetzen und Staunen. Denn tatsächlich haben die "Kleinanleger, die rasen wie Donald Ducks Neffen" (Investment-Stratege Doug Peta von BCA Research) Marktbewegungen ausgelöst – und die Profis zumindest im ersten Anlauf deklassiert. Nach einer Analyse der Investmentbank Goldman Sachs von Mitte Juni hat ein Korb aus bei den Amateuren besonders beliebten Aktien seit dem Tiefpunkt um 61 Prozent zugelegt. Die Favoriten der Hedgefonds-Manager brachten es in diesem Zeitraum nur auf 45 Prozent, der S&P-500-Index auf plus 36 Prozent.
Zumindest für diejenigen Käufer, die frühzeitig einstiegen, "als die institutionellen Investoren schreiend aus dem brennenden Gebäude rannten", habe sich die Wette wohl ausgezahlt, räumt Peta ein. Wer allerdings erst später auf den Zug aufgesprungen sei, der sei nun wahrscheinlich in der Verlustzone. Die Hertz-Aktie ist nach einem wilden Schleuderkurs wieder deutlich unter zwei Dollar angekommen.
Dass sich die Börsennovizen davon in die Flucht jagen lassen, bezweifelt Peta dennoch. "Das sind Schatzjäger, die nicht so leicht aufgeben. Sie suchen das Gold am Ende des Regenbogens." Peta fühlt sich in diesen Tagen an die Dotcom-Manie der Jahrtausendwende erinnert, als Amateurzocker ihre Jobs kündigten, um sich lustig mit dem Börsenkarussell zu drehen. Als der Jahrmarkt schloss, landeten viele im finanziellen Desaster.
Derweil haben andere ihre Schäfchen ins Trockene gebracht: Viele Profianleger hätten die wieder steigenden Kurse der vergangenen Wochen genutzt, um Aktien von Unternehmen abzustoßen, die als existenziell bedroht gelten, so Peta. Die auf den großen Gewinn hoffenden Kleinanleger verschafften dem Markt die notwendige Liquidität, damit sich institutionelle Verkäufer leise verabschieden konnten.
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