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Grüne: Warum Annalena Baerbock mehr »Führung« verspricht

May 03
08:58 2021
Kanzlerkandidatin Baerbock, Co-Parteivorsitzender Habeck: Keine Scheu vor Führung Bild vergrößern

Kanzlerkandidatin Baerbock, Co-Parteivorsitzender Habeck: Keine Scheu vor Führung

Foto: Kay Nietfeld / dpa

Manchmal macht einen das, was man zu sehen erwartet hat, kurz blind für alles andere. Zum Beispiel in diesem Satz, den die grüne Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock in der ersten Rede nach ihrer Kür gesagt hat: »Eine grüne Kanzler*innenkandidatur steht für ein neues Verständnis von politischer Führung.«

Dass die Grünen manches anders machen wollen und sowieso vieles neu, daran hat man sich gewöhnt, das fiel auf. Aber was, wenn es nicht nur um das »neue Verständnis« von Führung geht, sondern mindestens ebenso sehr um »Führung« an sich?

In den Kommentaren zur Verkündung der Kandidatur fiel das Wort jedenfalls auffallend oft:

  • Robert Habeck, der Co-Vorsitzende sagte: »Vor allem haben wir einen neuen Führungsstil etabliert.«

  • Michael Kellner, der Bundesgeschäftsführer, sagte: »Wir setzen Maßstäbe, wie moderne Führung aussieht.«

  • Katrin Göring-Eckardt, Co-Fraktionschefin im Bundestag, twitterte: »Annalena und Robert sind genau die Führung, die dieses Land jetzt braucht.«

  • Anton Hofreiter, Co-Fraktionschef im Bundestag, sagte über die Parteivorsitzenden: »Sie verkörpern eine moderne Führung.«

Ziemlich viel »Führung«, ginge es nur darum, das Kooperative des eigenen Politikstils zu betonen. Ziemlich viel »Führung« auch, um zu kommunizieren, dass man ins Kanzleramt will (wo man bekanntlich auch ohne allzu viel Führung Jahre zubringen kann). Ziemlich viel »Führung« für eine linke, antiautoritäre Partei.

Ziemlich viel »Führung« überhaupt für eine politische Kraft in diesen Zeiten.

Das fünfte Versprechen der Partei

Es sieht ganz so, als sei »Führung« ein entscheidendes Element des grünen Wahlkampfs. Vielleicht liegt darin sogar ein oft übersehenes fünftes Versprechen der Grünen, neben Klimaschutz, Bejahung gesellschaftlicher Vielfalt, mehr Kooperation und der Chance auf Veränderung nach 16 Jahren Merkel. Ein Grund für ihre guten Umfrageergebnisse derzeit (hier mehr).

Die Bereitschaft zur Führung zeigt sich nicht nur in Wortmeldungen, sondern auch in Praxis und Programm: Die Kanzlerkandidatur machten Baerbock und Habeck unter sich aus. Im Grundsatzprogramm der Grünen steht nichts mehr von Volksentscheiden, lange eine Kernforderung der Partei. Stattdessen wollen die Grünen nun Bürgerräte, die beraten, nicht entscheiden.

Wie kommt das?

Für diese neue Haltung gibt es mindestens drei Gründe.

  • Das grüne Programm erzwingt sie.

  • Das politische System legt sie nahe.

  • Die Wählerinnen und Wähler scheinen sie zu mögen.

Ohne Steuerung keine Transformation

Die Klimakrise wird sich durch Zögern und Abwarten nicht abwenden lassen. Eine gesellschaftliche Transformation, wie sie für die Lösung von fossilen Energien nötig sein wird, wird sich in der verbleibenden Zeit nicht einfach so ergeben. Sie setzt entschiedene politische Steuerung voraus.

Selbst umfassende Beteiligung etwa beim Stromtrassenausbau wird eine Entscheidung nicht ersetzen können. Nicht alle Widerstände lassen sich auflösen. Es wird Verlierer geben. Es werden Zumutungen bleiben.

Eine Regierung, die es ernst meint mit der ökologischen Transformation, muss bereit sein, auch Entscheidungen zu treffen, die lokal oder national im Moment der Entscheidung keine Mehrheit finden. Und sich dann in vier Jahren dafür verantworten und hoffen, dass sich die Haltungen ändern.

Insofern ist politische Führung für die Grünen nicht nur Rollenbruch einer früher basisdemokratischen Partei, sondern methodische Notwendigkeit angesichts des politischen Programms.

Ein repräsentatives System setzt Führung voraus

In einem repräsentativen System wählen Menschen andere Menschen, von denen sie glauben, dass sie ihre Interessen vertreten. Die können, dürfen und müssen frei entscheiden und sich dann zur Rechenschaft ziehen lassen. Ein repräsentatives System setzt Führung voraus.

Parlamente sind Institutionen, die so entworfen wurden. Parteien sind Organisationen, die in einem solchen System entstanden sind.

Deshalb wichen Parteien vom Repräsentationsprinzip in den vergangenen Jahren oft auch gerade dann ab, als sie in ernste Krisen geraten waren, ohne dadurch deren Ursachen zu beseitigen.

Die SPD griff zum Mitgliedervotum, als sie fürchten musste, ihre Zustimmung zur Großen Koalition nicht verteidigen zu können. Sie ließ die Parteivorsitzenden von der Basis wählen, als die Parteispitze so unter Druck geraten war, dass am Ende aus dieser Spitze lange nicht einmal mehr jemand antreten wollte. Olaf Scholz tat es schließlich doch und verlor gegen Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans.

In der Union tourte man durch die Partei, um den Zorn der Merkel-Gegner zu beruhigen. Vor allem Friedrich Merz und Markus Söder nutzten die Parteibasis als Argument, um die Parteistrukturen zu ihrem kurzfristigen Nutzen anzugreifen.

Merz warf dem »Establishment« vor, Armin Laschet als Parteichef zu favorisieren. Söder schaffte es fast, Laschet als Kanzlerkandidaten auszustechen, indem er auf den Willen der Basis verwies. Von seinem Generalsekretär wurde er zum »Kandidaten der Herzen« erklärt.

Repräsentation ist selbst in der politischen Mitte in Verruf geraten, während paradoxerweise der Wunsch nach Führung nicht nachgelassen zu haben scheint, zugleich hat sich mehr Basisbeteiligung für Parteien als riskant erwiesen.

Die beiden, Merz und Söder, sägen an dem Ast, auf dem sie selbst dereinst sitzen wollen. Sie befeuern einen Konflikt zwischen Basis und Funktionären, der in einer Partei niemals aufgelöst werden kann.

Die Grünen bieten etwas von dem an, was Merz und Söder bei vielen Menschen attraktiv macht und was die Laschet-Union nicht bietet: ausgestellte Führungslust, wenn auch weniger breitbeinig. Ohne dabei wie Merz und Söder gegen die Logik einer Partei anzuarbeiten, was Reibungen erzeugen muss.

Verweigerung von Führung in der Pandemie

Man kann vermuten, dass die Coronapandemie dieses Angebot eher attraktiver als unattraktiver gemacht hat. Sie zeigte nämlich, wie es aussieht, wenn politische Führung systematisch verweigert wird.

Bund, Länder, Kommunen und die EU zeigen abwechselnd aufeinander und erklären, die anderen seien schuld. Alle Parteien diesseits der AfD waren eingebunden, also gab es auch keine Alternative (auch die Grünen waren keine). Strategisch zogen die Regierungen sich auf den Standpunkt zurück, man müsse auf Sicht fahren.

Dazu kamen Versuche etwa des Gesundheitsministers Jens Spahn, die Allgemeinheit in Mithaftung zu nehmen: Alle zusammen hätten das Virus unterschätzt. Man verwies auf Lockerungswünsche in der Bevölkerung, die es womöglich nie gab, um Entscheidungen zu treffen, für die niemand verantwortlich sein wollte.

Das Ergebnis: Seit einem Jahr gibt es keinen Plan, an dem man die Politik messen und an dem man sich orientieren könnte. Keine klare Möglichkeit, jemanden bei der Wahl zur Verantwortung zu ziehen. Die Zustimmung zur Regierung ist eingebrochen.

Die Pandemie dürfte den Eindruck verstärkt haben, dass Führungslosigkeit allen zugleich die Handlungsfähigkeit nehmen kann. Und dass andererseits vernünftige Führung die Einflussmöglichkeiten von allen erhöhen kann. Von denen, die entscheiden, und von denen, die entscheiden können, was sie davon halten.

Im Wahlkampf sieht das so aus: Während Armin Laschet weiter die Angriffe von Markus Söder abwehren muss und Friedrich Merz ins Wahlkampfteam geholt hat, während Olaf Scholz als Kanzlerkandidat einer Partei, die ihn nicht als Vorsitzenden wollte, in den Wahlkampf muss, haben Baerbock und Habeck alle Freiheiten.

Während das Laschet-Lager im Fall einer Niederlage auf Söder zeigen kann, während bei der SPD Kandidat und Parteivorsitzende ungeklärt nebeneinanderstehen, ist die Lage bei den Grünen eindeutig.

Wenn dieser Wahlkampf doch schiefgehen sollte, dann ist klar, wer den Kopf hinhalten muss: Baerbock und Habeck und niemand sonst. Darin liegt dann auch das Risiko von politischer Führung.

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