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Hannover autofrei? Oberbürgermeister Belit Onay stößt auf Widerstand

June 24
22:20 2020
Hannovers Oberbürgermeister Belit Onay will die Innenstadt autofrei machen, ein Konzept der Grünen zeigt nun erste Schritte - die erstaunlich autofreundlich sind Icon: vergrößern

Hannovers Oberbürgermeister Belit Onay will die Innenstadt autofrei machen, ein Konzept der Grünen zeigt nun erste Schritte – die erstaunlich autofreundlich sind

Tobias Wölki/ imago images

Im Wahlkampf um Hannovers Oberbürgermeisterposten hat Belit Onay (Grüne) 2019 ein klares Ziel formuliert: Das Zentrum der niedersächsischen Landeshauptstadt soll bis 2030 autofrei werden. Der Vorschlag erwies sich als populär – und verhalf dem Deutschtürken in der einstigen SPD-Hochburg mit zum Wahlsieg. Als erste deutsche Großstadt bekam Hannover ein Oberhaupt mit Migrationshintergrund.

Tatsächlich trifft Onays Vorhaben den Zeitgeist, zunehmend steigen Menschen täglich aufs Rad. Das zeigt sich vor allem in Metropolen: Die österreichische Hauptstadt Wien will den Autoverkehr aus dem Zentrum verbannen. Städte wie Brüssel, Mailand, Paris und andere räumen Fußgängern und Radfahrern mehr Platz ein.

Doch so viel Anklang es bei vielen Menschen findet, das Auto zurückzudrängen, so furios ist vielerorts der Widerstand gegen die Idee. Während in Wien die FPÖ das Konzept als "Verrat an allen Autofahrern" geißelte, sorgen sich in Hannover vor allem Geschäftsleute, dass die autofreie Innenstadt Kunden abschrecken könne.

Hilft oder schadet Autofreiheit den Geschäften?

Onays Idee trifft teils auf harten Widerstand, nachdem die Pläne nach und nach Gestalt angenommen haben. Dass Menschen mit ihren Autos in die Innenstadt fahren dürfen, sei für die Wirtschaft unverzichtbar, erklärte der Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer Hannover, Horst Schrage. "Diskussionen über noch striktere Einfahrbeschränkungen in die City von Hannover schrecken zu viele Kunden ab und sind in der aktuellen Lage mehr als kontraproduktiv."

Der lokale Handel ist nicht nur von der Coronakrise betroffen. Kundinnen und Kunden wandern schließlich seit Jahren zum Onlinehandel ab. Zwischen 2007 und 2018 halbierte sich die Zahl der Passanten in den drei wichtigsten Geschäftsstraßen der Stadt an Werktagen beinahe. Onays Idee einer autofreien Innenstadt, in der sich potenzielle Kunden gern aufhalten, hat damit viel zu tun. Doch löst sie die Probleme? Oder verschärft sie diese?

Auch Martin Prenzler, Geschäftsführer der Citygemeinschaft Hannover, die Interessen der ansässigen Läden vertritt, stört sich am Begriff "autofrei". Hannover habe ein sehr großes Einzugsgebiet, viele Besucher aus dem VW-Land Niedersachsen seien aufs Auto angewiesen. "Eine autofreie Innenstadt kann es deshalb nicht geben", so Prenzler. "Der Begriff suggeriert eine harte Grenze, ab der man ausgesperrt wird." Das passe nicht zu einer Stadt, die sich als weltoffen versteht.

Grüne zeigen sich flexibel

So oder ähnlich reagieren Geschäftsleute in vielen deutschen Städten, wenn grüne Politiker derartige Ideen umsetzen wollen. In Hannover kommt der Gegenwind insofern etwas überraschend, als sich Onays Partei recht flexibel zeigt, wie der Wahlkampfschlager des Oberbürgermeisters zu verwirklichen sei.

Ein von Stadtverband und Ratsfraktion erarbeitetes Verkehrskonzept spricht lediglich von einem "autoarmen Erscheinungsbild" der Innenstadt. Das brachte der Partei schon den Spott der "Bild"-Zeitung ein, die innerhalb der Grünen Zoff zwischen dem Stadtverband und Onay über die autofreie Innenstadt witterte.

Der Oberbürgermeister weist das zurück, er bezeichnet das Konzept gegenüber dem SPIEGEL als einen ersten Schritt auf dem Weg zu einer autofreien Stadt. "Wir wollen nicht nur Poller hochziehen, sondern eine echte Mobilitätswende bewirken und die Innenstadt attraktiver machen", so Onay. "Dafür wollen wir Durchfahrtsstraßen sperren und die Erreichbarkeit mit dem Fahrrad verbessern."

Dass es nicht schneller geht, mag auch daran liegen, dass die Grünen im Stadtrat nur drittstärkste Partei sind – hinter SPD und CDU. Die Sozialdemokraten verfolgen zwar ähnliche Ziele wie die Grünen, geben sich aber autofreundlicher und wollen es Onay auch nicht zu einfach machen. Im kommenden Jahr wählen die Bürger das Stadtparlament neu.

Bisher sieht das grüne Verkehrskonzept lediglich vor, dass der Durchgangsverkehr aus dem vom Cityring umschlossenen Zentrum verbannt wird. Dieses Gebiet rund um den Hauptbahnhof ist gerade einmal 2,2 Quadratkilometer groß. Ganz Hannover umfasst 204 Quadratkilometer. Schon jetzt befinden sich mehrere Fußgängerzonen in dem Areal, um das es jetzt geht.

Dieses wird nun in elf Zonen, sogenannte Quartiersperlen, aufgeteilt. Die darin gelegenen Parkhäuser sind lediglich über Zufahrtsstraßen vom Cityring aus erreichbar. Parkgebühren sollen den Parksuchverkehr reduzieren.

Trotzdem dürfen Anwohner, Lieferanten und Anlieger weiterhin auch in Straßen einfahren, die nicht direkt zu einem der Parkhäuser führen. Dieser Zielverkehr bleibt im Gegensatz zum Durchgangsverkehr also erhalten – die tatsächliche Erreichbarkeit der Geschäfte ist kaum gefährdet.

Das Konzept erhält jedoch nicht nur den Autos Vorteile. So dürfen Busse und Bahnen wie bisher kreuz und quer durch die Innenstadt fahren. Radfahrer dürften ebenfalls profitieren: Ein Veloroutennetz soll die Innenstadt erschließen, abseits der Wege des Autoverkehrs. Auf einigen Straßen sollen mehr Freiraum und Pflanzen Fahrspuren ersetzen.

Konzept ähnelt dem der Stadt Gent

Insgesamt ähnelt das hannoversche Konzept dem der belgischen Stadt Gent, die als einer der Vorreiter unter den autofreien Städten gilt. Das innerste Zentrum wurde 1997 zur autofreien Zone, 2017 verbannte die Verwaltung den Durchgangsverkehr aus den umliegenden Stadtteilen auf eine Ringstraße. Seitdem sind diese Gebiete nur noch über die Umfahrung erreichbar, ähnlich den hannoverschen "Quartiersperlen".

Es geht bei solchen Konzepten viel um einen anderen Verkehrsfluss – und weniger darum, das Auto grundsätzlich auszusperren. "Der Knackpunkt einer autofreien Stadt ist nicht, ob Anwohnerverkehr erlaubt ist", sagt Rita Cyganski vom Institut für Verkehrsforschung am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR). "Entscheidend ist, den Durchgangsverkehr auszuschließen und die Nutzung von Fuß-, Rad- und öffentlichem Verkehr attraktiver zu gestalten." Das passiert in Gent, das soll nach Vorstellung von Onays Grünen auf ähnliche Weise in Hannover passieren.

Der Streit, ob das dann autoarm oder autofrei ist, wirkt eher wie ein Scheingefecht. Entscheidend für den Erfolg des Vorhabens – und damit auch für Onays Ansehen als Oberbürgermeister – ist, ob das Konzept die Stadt belebt und den Kaufleuten hilft. Dazu scheint es grundsätzlich geeignet, trotz aller Befürchtungen der Geschäfteinhaberinnen und -inhaber.

Anteil der Autofahrer an den Kunden wird überschätzt

Viele Fälle belegen positive Effekte einer autofreien Umgestaltung. Zum Beispiel die Sendlinger Straße in München, die nach einem einjährigen Testlauf zur Fußgängerzone wurde: "Dort gaben 78 Prozent der Gewerbetreibenden an, dass die Umsatzzahlen und die Passantenfrequenz entweder gleich geblieben oder gestiegen sind", erklärt DLR-Forscherin Cyganski. Einzelne Studien gehen ihr zufolge sogar davon aus, dass Autofreiheit und ein attraktiveres Umfeld die Umsätze in Innenstädten um bis zu 40 Prozent erhöhen können.

Doch woher kommt der Widerstand der Händler? Ihm liegt Cyganski zufolge eine Fehlannahme zugrunde. Gewerbetreibende überschätzten den Anteil der Autofahrer an ihren Kunden meist, bei einer Studie in London gar um das Dreifache. Gleichzeitig lieferten Radfahrer und Fußgänger zwar kleinere Umsätze, kauften aber häufiger ein. Ihr Ausgabenvolumen liege oft über dem der Pkw-Fahrer, so Cyganski. "Studien zeigen außerdem, dass autofreie Innenstädte Leerstand reduzieren können. Gewerbetreibende haben zu Anfang oft die stärksten Bedenken, können aber stark von autofreien Bereichen profitieren."

Attraktive Innenstadt lockt Menschen aus dem Umland an

Doch nicht nur die Furcht vor sinkenden Umsätzen, auch die Angst, aufs Auto angewiesene Menschen aus dem Umland auszuschließen, ist möglicherweise unbegründet. "Menschen nehmen für ein attraktives Einkaufsumfeld weitere Wege in Kauf", erklärt DLR-Forscherin Cyganski. Wie man ans Ziel komme, sei weniger entscheidend als die Frage, ob man sich dort wohlfühle und sich angenehm bewegen könne. "Natürlich ist Autofreiheit kein inklusiver Begriff", so Cyganski, "sie schafft aber eine Umgebung, in der man verweilen will. Das lockt auch Menschen aus dem Umland in die Innenstadt."

Auch Citygemeinschaft-Geschäftsführer Prenzler bescheinigt den Grünen, mit ihrem Konzept Rücksicht auf die Interessen der Geschäftsleute Rücksicht genommen zu haben. Das allein reicht bei der Umgestaltung einer Innenstadt DLR-Forscherin Cyganski zufolge aber nicht aus. Wie eine autofreie Stadt aussehe, sei für viele Menschen kaum vorstellbar, man müsse sie also informieren und mitnehmen.

Er werde den Dialog mit den Bürgern suchen, betont Oberbürgermeister Onay, der sich bisher etwas zurückgehalten hat. "Die autofreie Innenstadt ist keine Kampfansage, sondern ein Angebot und eine Chance, Hannover weiterzuentwickeln".

Dass so ein Projekt aber hochsensibel ist und durchaus als Kampfansage verstanden werden kann, zeigt ein Blick nach Gent ins Jahr 1997: Dort erhielt der damalige Bürgermeister, der die Innenstadt autofrei machen wollte, per Post eine Morddrohung. Er hielt dennoch an seinem Plan fest.

Zwanzig Jahre später haben sich die Verhältnisse offenbar umgekehrt. Der Nachfolger im Amt erklärte 2017, er müsste eine kugelsichere Weste tragen, wenn er den Schritt rückgängig machen wollte.

Icon: Der Spiegel

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