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Die 1,9-Milliarden-Euro-Frage

June 22
21:08 2020
Wirecard-Messestand auf der Internationalen Tourismus Messe (ITB) in Berlin 2019 Icon: vergrößern

Wirecard-Messestand auf der Internationalen Tourismus Messe (ITB) in Berlin 2019

JENS SCHLUETER/EPA-EFE/Shutterstock

Die Suche nach 1,9 Milliarden Euro in der Bilanz des Bezahldienstleisters Wirecard war bisher erfolglos: Der Vorstand des Dax-Konzerns teilte in der Nacht zu Montag mit, dass die Bankguthaben "mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht bestehen".

Bereits am Freitag war der umstrittene Vorstandschef Markus Braun zurückgetreten, nachdem Wirtschaftsprüfer am Donnerstag gemerkt hatten, dass eine Milliardensumme in der Bilanz des Unternehmens fehlt. Es folgte ein historischer Absturz der Wirecard-Aktie um mehr als 80 Prozent.

Aber was macht der Konzern aus Aschheim bei München überhaupt? Und wie steht der Skandal im Zusammenhang mit seinem Geschäftsmodell? Die Antworten auf die wichtigsten Fragen.

Wie verdient die Firma ihr Geld?

In der breiten Öffentlichkeit ist Wirecard weitgehend unbekannt, denn Verbraucher kommen mit dem Unternehmen nur indirekt in Kontakt. Egal, ob Kunden im Internet Bücher kaufen oder Reisen buchen: Oft ist Wirecard im Hintergrund der zentrale Vermittler zwischen Käufer, Verkäufer und deren Banken.

Das bedeutet konkret: Bezahlt ein Kunde per Kreditkarte, dann fließt das Geld von Visa oder Mastercard nicht direkt an den Händler, sondern geht zunächst einmal an Wirecard. Erst mit zeitlichem Verzug leitet die Firma das Geld dann an den Einzelhändler weiter. Wirecard kassiert dafür Provisionen, weil die Firma das Risiko trägt und garantiert, dass die Geldbeträge beim Empfänger verbucht werden. Die Margen für solche Geschäfte sind gering, die Masse aber macht es.

Wie hängen die verschwundenen 1,9 Milliarden Euro damit zusammen?

Das Geld benötigt Wirecard für seine Dienstleistungen in Asien. Wirecard schaltet sich auch dort zwischen den Endkunden und die Händler. Verlässt der Kunde etwa nach dem Kauf mit Karte ein Geschäft, hat er zwar Ware, der Händler aber noch nicht sein Geld. Wirecard schießt dem Händler den Betrag vor. Die 1,9 Milliarden Euro dienen also als Sicherheiten für an Händler gewährte Kredite. Ein Vertreter des Wirecard-Konzerns soll für diesen Zweck bei zwei philippinischen Banken mehrere Konten für das deutsche Unternehmen befüllt haben.

Sollte ein Händler ausfallen, kann Wirecard auf diese Konten zurückgreifen. Wenn das nicht passiert, bleibt das Geld als Sicherheit auf dem Treuhandkonto liegen. Wenn alles gut geht, kann Wirecard also auch profitabel wirtschaften, ohne auf die 1,9 Milliarden Euro je zugreifen zu müssen.

Wirecards Geschäftspraktiken in Asien stehen aber auch grundsätzlich in der Kritik. Denn in Asien hat das Unternehmen keine eigene Lizenz als Zahlungsdienstleister. Deshalb braucht der Konzern in Fernost sogenannte Drittpartner, die den Kontakt zu den Händlern vor Ort halten. Dieses Geschäft nennt sich Third Party Acquiring (TPA). Wirecard hat nach eigenen Angaben deshalb das Geld nicht selbst an die beiden Institute überweisen.

Die "Financial Times" hatte zuvor berichtet, dass Teile dieser Buchungen gar nicht existieren. Daraufhin beauftragte Wirtschaftsprüfer von KMPG konnten zur Höhe und zur Existenz der Umsätze aus dem Drittpartnergeschäft keine Aussage ableiten. Weder, dass diese existieren und korrekt sind, noch, dass sie nicht existieren und nicht korrekt sind.

Der philippinische Wirecard-Treuhänder Mark Tolentino, der die 1,9 Milliarden Euro verwaltet haben soll, hat nach eigenen Angaben nichts mit möglichen unlauteren Geschäften von Wirecard zu tun. In einem Statement, das dem SPIEGEL vorliegt, versichert sein Anwalt Dennis Manalo "unerbittlich", dass Tolentinos Kanzlei MKT Law keinerlei Kenntnis von "angeblichen Unregelmäßigkeiten" habe, wonach Belege über die Bankguthaben bei zwei philippinischen Banken gefälscht sein könnten.

Warum ist das Unternehmen nun in seiner Existenz bedroht?

Wirecard ist massiv bedroht, weil dem Unternehmen Kredite in Milliardenhöhe gekündigt werden könnten. Denn das Unternehmen ist wegen des Vorfalls nicht in der Lage, eine geprüfte Bilanz vorzulegen. Das könnte Banken dazu zwingen, Darlehen zurückzuverlangen.

Wie reagieren Investoren auf den Skandal?

Investoren stoßen derzeit massenweise Wirecard-Aktien ab. Die Papiere des Unternehmens stürzten an diesem Montag um weitere 44 Prozent ab und waren mit 12,99 Euro zeitweise so billig wie zuletzt vor acht Jahren. Am Mittwochabend war eine Wirecard-Aktie noch über 100 Euro wert gewesen. Ein Kurssturz, der ohne Beispiel in der deutschen Börsengeschichte ist.

­­­­Welche Rolle spielt die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY?

Laut Gesetz sind alle mittelgroßen und großen Kapitalgesellschaften dazu verpflichtet, den Jahresabschluss durch einen Abschlussprüfer prüfen zu lassen. EY hat jahrelang Wirecards Jahresabschlüsse überprüft, bislang, ohne etwas zu beanstanden.

Bankguthaben zu überprüfen gehört dabei zu den grundsätzlichen Aufgaben. Es geht darum, dass sich Wirtschaftsprüfer von einer Bank versichern lassen, ob das gebuchte Guthaben tatsächlich vorhanden ist. Im Zuge dieser Überprüfung haben die Prüfer von EY nun herausgefunden, dass die Bankbelege der philippinischen Konten gefälscht waren.

Die Tübinger Rechtsanwaltskanzlei TILP sieht deshalb keine Fehler bei den Prüfern und sieht von einer Klage gegen das Unternehmen ab. "EY hat sich nach unserem Verständnis hier zwar nicht mit Ruhm bekleckert. Zentral verantwortlich ist aus kapitalmarktrechtlicher Sicht aber weiterhin Wirecard. Und das ist von entscheidender Bedeutung. Gegen Wirecard bestehen die besten Aussichten, Schadensersatz zu erlangen, schon weil diese rechtlich viel leichter durchzusetzen sind", sagt Maximilian Weiss, Rechtsanwalt der TILP-Gruppe.

Ob sich EY doch schuldig gemacht hat, weil das Unternehmen nicht früher nachfragte, müssen nun staatliche Aufsichtsbehörden entscheiden. "Gründliche Prüfungen hätten einen solchen Schaden sicherlich früher aufdecken müssen", sagt der Grünen-Finanzpolitiker Danyal Bayaz.

Drohen den Wirecard-Managern Haftstrafen?

Gegen die langjährigen Manager Markus Braun und Jan Marsalek könnte die Staatsanwaltschaft Haftbefehl beantragen, wenn sich die beiden im Zuge des Bilanzskandals strafbar gemacht hätten. Bilanzfälschung sowie Betrug von Banken wären mögliche Straftatbestände. "Wir prüfen alle in Betracht kommenden Straftaten", sagte eine Sprecherin der Staatsanwaltschaft München I an diesem Montag.

Braun und Marsalek haben während ihrer Zeit bei Wirecard stets alle Vorwürfe zurückgewiesen. Das Unternehmen sieht sich als Opfer eines milliardenschweren Betrugs.

Icon: Der Spiegel

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