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USA – Kampf gegen Rassismus: „Liberale tun sich am schwersten“

June 21
05:48 2020
Protest gegen Polizeigewalt und Rassismus in Washington Icon: vergrößern

Protest gegen Polizeigewalt und Rassismus in Washington

Evan Vucci/ dpa

SPIEGEL: Frau DiAngelo, ist jeder Weiße qua Geburt Rassist?

Di Angelo: Nicht qua Geburt. Jeder Weiße ist Rassist durch die Sozialisation in einer rassistischen Kultur.

SPIEGEL: Das ist eine ziemlich weitgehende Aussage.

DiAngelo: Es kommt darauf an, wie wir Rassismus definieren. Ich sage nicht, dass alle Weißen ihre schwarzen Mitbürger hassen und ihnen schaden wollen. Das wäre wirklich schockierend.

SPIEGEL: Was meinen Sie dann?

DiAngelo: Wir leben in einer Gesellschaft, zu deren Grundlage es gehört, dass Weiße privilegiert sind. Das gilt für die USA, aber auch für Deutschland. Wir nehmen diese Privilegien in Anspruch, tun aber gleichzeitig so, als ob sie nicht existierten.

SPIEGEL: Aber bestreiten denn so viele Weiße noch, dass es für uns in vielerlei Hinsicht einfacher ist?

DiAngelo: Wir glauben, dass unser Erfolg das Ergebnis harter Arbeit ist und nicht von Vorteilen, die wir wegen unserer Hautfarbe haben. Dabei ist klar, dass Schwarze aufgrund ihrer Hautfarbe diskriminiert werden. Sie sind ökonomisch schlechter gestellt, sie haben eine geringere Lebenserwartung. Sie sind in allen Belangen benachteiligt. Das lässt sich anders als durch Rassismus nicht erklären.

SPIEGEL: Ist jeder Weiße automatisch ein Rassist, weil er in einer Gesellschaft lebt, die strukturell rassistisch ist?

DiAngelo: Ja, weil Sie in einem ganzen Netzwerk von Ideen und Überzeugungen aufwachsen, weil die Sprache dieses System reflektiert, genauso wie es Filme oder Medien tun. Es ist nicht möglich, davon nicht geprägt zu werden.

SPIEGEL: Würden Sie sagen, Sie sind Rassistin?

DiAngelo: Ja. Aber möglicherweise verstehen wir beide etwas anderes darunter. Ich persönlich bin davon überzeugt, dass alle Menschen gleich sind. In diesem Sinne bin ich keine Rassistin. Aber auch ich habe Stereotype, ich habe Vorurteile und bin in bestimmten Situationen voreingenommen. Ich bin geprägt von einer Gesellschaft, die rassistische Ideen in mir eingepflanzt hat und von der ich profitiere. Das ist ein wichtiger Unterschied.

SPIEGEL: Ist Ihre Definition von Rassismus nicht eine Aufforderung zum Nichtstun – nach dem Motto: Ich kann nichts machen, ich bin ohnehin Rassist?

DiAngelo: Im Gegenteil! Wir müssen uns unsere Voreingenommenheit bewusst machen, damit sie nicht unser Verhalten bestimmt. Wenn eine Lehrerin ein schwarzes und ein weißes Kind vor sich hat, die sich genau gleich verhalten, dann wird sie die Kinder trotzdem anders behandeln, auch wenn sie es nicht will. Das merkt sie selbst gar nicht. Das ist empirisch gut dokumentiert. Und wenn sie darauf beharrt, sie sei keine Rassistin, dann wird sich ihr Verhalten nicht ändern.

SPIEGEL: Jeder Weiße muss sich also zunächst seines eigenen Rassismus bewusst werden?

DiAngelo: Ja, und das ist nicht einfach. Vor allem bei linksliberalen Weißen. Mit Ihnen lässt sich am schwersten über Rassismus reden.

SPIEGEL: Warum?

DiAngelo: Diese Leute würden nie bewusst etwas Rassistisches sagen oder rassistisch handeln. Aber wenn man sie darauf anspricht, dass sie genau das getan haben, ohne es zu wollen, dann reagieren sie verletzt oder ärgerlich.

SPIEGEL: Sie haben das "weiße Verletzlichkeit" genannt. Aber gerade liberale Weiße reden doch fortwährend über Rassismus.

DiAngelo: Aber nicht über den eigenen. Für sie ist es entscheidend für die eigene Identität, nicht als Rassisten gesehen zu werden. Deshalb investieren sie alle ihre Energie darin, den eigenen Rassismus zu leugnen.

SPIEGEL: Gibt es einen Weg für Weiße, den eigenen Rassismus zu überwinden? Kann ein Weißer irgendwann sagen, er sei kein Rassist mehr?

DiAngelo: Nein, und das wäre auch nicht gut. Wenn ich einigen Weißen diese Möglichkeit eröffne, dann wird sich jeder Weiße darauf berufen. Dann werden alle sagen, sie seien keine Rassisten. Und dann haben wir eine komplett rassistische Gesellschaft.

SPIEGEL: Sie reden über weiße Privilegien. Was sagen sie einem Arbeitslosen in den früheren Industrieregionen des mittleren Westens, der ökonomisch am unteren Ende der Skala lebt und dessen Lebenserwartung statistisch gesehen sogar sinkt?

DiAngelo: Ich würde ihm sagen, dass er einige große Hindernisse in seinem Leben zu überwinden hat, aber eines nicht, und das ist Rassismus. Ich würde ihm auch sagen, dass er ein Mann ist und von einem patriarchalischen System profitiert hat. Eine schwarze Frau in seiner Situation hätte die gleichen Probleme, und sie müsste zudem gegen Rassismus und Patriarchalismus ankämpfen. Ich bin in Armut aufgewachsen. Weiß zu sein hat mir dabei geholfen, damit umzugehen.

SPIEGEL: Sie schreiben, Sie wollten nicht, dass sich die Weißen schuldig fühlen. Wie soll das gehen, wenn man gerade als Rassist überführt worden ist?

DiAngelo: Es geht mir vor allem darum, die Leute zum Handeln zu motivieren. Sie sollen ihr Schuldgefühl nicht als Ausrede dafür benutzen, untätig zu bleiben.

SPIEGEL: Ist es eine kluge Kommunikationsstrategie zu sagen, alle Weißen sind Rassisten?

DiAngelo: Unter strategischen Gesichtspunkten vielleicht nicht. Aber wir leben in einer Zeit, in der die Frage des Rassismus für viele Menschen eine neue Dringlichkeit angenommen hat. Sie haben es satt, strategisch vorzugehen und wieder auf weiße Sensibilitäten Rücksicht nehmen zu müssen.

SPIEGEL: Es geht doch um die Frage, wie man die rassistischen Strukturen verändert, die Sie kritisieren. In einer Demokratie braucht man dazu eine Mehrheit, und das heißt, auch viele Weiße. Sind strategische Fragen nicht wichtig?

DiAngelo: Es gibt ja verschiedene Wege, das Problem anzugehen, und einer davon wird hoffentlich funktionieren. Mein Buch ist weltweit erfolgreich, also funktioniert mein Ansatz offenbar nicht so schlecht. Aber wer ihn nicht mag, für den gibt es auch schonendere.

SPIEGEL: Was unterscheidet die gegenwärtigen Proteste gegen Rassismus und Polizeigewalt von denen, die periodisch in den USA immer wieder ausbrechen, zuletzt vor sechs Jahren nach dem Tod von Michael Brown in Ferguson?

DiAngelo: Ich habe zunächst einmal nicht den Eindruck, dass die weiße Bevölkerung sich besonders an der Ungleichheit stört, die Schwarze erfahren, wenn es Nachteile oder Unannehmlichkeiten für uns mit sich bringt. Wie viele unbewaffnete Schwarze müssen vor unseren Augen ermordet werden, damit wir etwas tun?

SPIEGEL: Es bleibt also alles beim Alten?

DiAngelo: Ich habe die Hoffnung, dass es diesmal anders ist. Es scheint jetzt ernsthaft darüber nachgedacht zu werden, wie man an den Zuständen etwas ändern kann. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass demokratische Präsidentschaftskandidaten auf der Bühne über Reparationen für die Nachkommen versklavter Afrikaner diskutieren. Oder dass Moderatoren im Mainstream-Fernsehen über strukturellen Rassismus reden. Das gab es vorher nicht.

SPIEGEL: Unter denen, die derzeit überall in den USA gegen Polizeigewalt und Rassismus demonstrieren, sind auch viele Weiße. Ist das gut, oder wollen die nur zeigen, dass sie keine Rassisten sind?

DiAngelo: Das ist sehr ermutigend und wichtig. Es muss allerdings weitergehen, wenn die Kameras nicht mehr da sind. Werden wir dann weiterkämpfen, politisch und in unserem eigenen Umfeld? Darauf wird es ankommen.

SPIEGEL: Sie glauben, die Dinge könnten sich ändern?

DiAngelo: Ich bin vorsichtig optimistisch.

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