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Corona-Lockerungen: War der Lockdown überflüssig?

June 20
22:00 2020
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Berlin: In der Hauptstadt sind die Infektionszahlen zuletzt wieder angestiegen

Kay Nietfeld/ DPA

"Mit der Coronakrise ist es wie mit dem Klimawandel", sagt Jasper Meya, 32 Jahre, kurzgeschnittene, dunkelbraun gelockte Haare, promovierter Umweltökonom. Jeder muss sich einschränken – zum Wohle aller. Beim Klimawandel heißt das: Auto stehen lassen, auf Fleisch verzichten, weniger konsumieren. Bei Corona: Maske tragen, Abstand halten, zu Hause bleiben. Ökonomen sprechen von externen Kosten, deren Auswirkungen einzeln betrachtet gering erscheinen mögen, aber zusammen mit Wucht wirken. Das zeigt sich besonders in der Coronakrise.

Trotz der allmählichen Lockerungen wird die definierte Grenze von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen fast überall eingehalten. Ein Viertel der Kreise hat in den vergangenen sieben Tagen nicht einen Fall gemeldet. Dabei hatten Wissenschaftler mit steigenden Fallzahlen gerechnet, wenn die Beschränkungen gelockert werden.

Dämmen Masken das Infektionsgeschehen ein? Das Wetter? Die abgesagten Großveranstaltungen? Alles möglich, sagt Meya, der als Umweltökonom am Deutschen Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung (iDiv) und der Uni Leipzig arbeitet. Allerdings wird ein Faktor in der Rechnung häufig vernachlässigt, weil er sich nur schwer berechnen lässt: der Mensch.

Laut ersten Studienergebnissen von Forschern des iDiv und der Universitäten Leipzig, Hamburg und Kiel, an denen Meya mitgearbeitet hat, reichen freiwillige Kontaktbeschränkungen wahrscheinlich aus, um die Corona-Pandemie in Deutschland einzudämmen.

Normalerweise erforscht das Wissenschaftsteam keine Viren, sondern ökonomische Fragen zu nachhaltiger Wirtschaft und dem Klimawandel. Allerdings lässt sich die Frage nach dem größtmöglichen Nutzen für alle auch auf die aktuelle Krise übertragen, deshalb gehört nun auch Corona zum Forschungsgebiet der Wissenschaftler.

Noch Ende März befragten die Forscher mehr als 3500 Menschen in Deutschland, ob sie wegen der Coronakrise Kontakte zu anderen meiden und warum. Anschließend fütterten sie ein Modell, das die Ausbreitung von Krankheiten simuliert, mit den Ergebnissen der repräsentativen Umfrage.

Freiwillige Kontaktbeschränkungen hätten Pandemie eindämmen können, aber zu einem hohen Preis

Ergebnis: Um sich vor einer Infektion zu schützen, hatten die meisten Menschen ihre persönlichen Kontakte von sich aus deutlich reduziert – und zwar bevor die Kontaktbeschränkungen erlassen wurden. Im Schnitt gaben die Befragten an, in ihrem Alltag im Vergleich zu vor der Pandemie nur noch einem Viertel der Menschen zu begegnen.

Laut den Simulationen hätte die freiwillige Kontaktbeschränkung wahrscheinlich sogar ausgereicht, um die Zahl der Neuinfektionen zu stabilisieren und den Reproduktionsfaktor bei 1 zu halten. Das heißt, jeder Infizierte hätte im Schnitt nur eine weitere Person angesteckt, die Pandemie wäre eingedämmt worden.

Die Forschungsgruppe hat ihre Studienergebnisse auf einen Wissenschaftsserver hochgeladen. Das erste Feedback von anderen Forschern sei positiv, sagt Meya. Eine echte Überprüfung der Studie, wie sie im Wissenschaftsbetrieb vor der Veröffentlichung eigentlich üblich ist, läuft bereits. Die Forscher haben ihre Studie bei einem renommierten Fachblatt eingereicht.

Auch andere Daten sprechen dafür, dass freiwillige Kontaktbeschränkungen entscheidend im Kampf gegen die Pandemie waren. So bestätigen Mobilfunkdaten, dass schon Mitte März Millionen Menschen in Deutschland nur noch halb so viel unterwegs waren wie sonst. Kontaktsperren, die ab dem 23. März galten, brachten keinen messbaren zusätzlichen Effekt. Auch der geschätzte Reproduktionsfaktor war schon vor Erlass der Beschränkungen zwischenzeitlich auf 1 gesunken.

Kritiker der Corona-Maßnahmen führen das als Argument an, der vorübergehende Lockdown in Deutschland sei sinnlos gewesen. Zu Recht?

"Unsere Analysen zeigen: Allein mit freiwilligen Kontaktbeschränkungen hätte sich die Pandemie wahrscheinlich eindämmen lassen", sagt Meya. "Aber zu einem hohen Preis." Laut dem Modell der Forscher hätten sich wahrscheinlich hundertmal mehr Menschen angesteckt, die Zahl der Todesfälle im Zusammenhang mit einer Coronainfektion wäre etwa 15-mal höher.

Freiwillige Kontaktbeschränkung und Drücken der Infektionszahlen entscheidende Faktoren

Um die Pandemie zu den geringsten gesellschaftlichen Schäden einzudämmen, hätten die Beschränkungen laut den Berechnungen sogar noch strenger ausfallen müssen. Dafür hätten die Infektionszahlen zunächst so gedrückt werden müssen, dass durchschnittlich weniger als einer von 100.000 Menschen akut infiziert ist. Wenn sich danach jeder nur noch mit etwa einem Drittel der Menschen getroffen hätte wie vor der Pandemie, wäre die Reproduktionszahl bei einem Wert von 1 geblieben.

Als die ersten Regeln gelockert wurden, hatte Deutschland diesen Wert jedoch noch nicht erreicht. Auch Forscher des Helmholtz-Zentrums für Infektionsforschung in Braunschweig hatten sich damals dafür ausgesprochen, die Fallzahlen noch weiter zu drücken, um schneller in eine neue Normalität zu kommen.

Kamen die Lockerungen also sogar zu früh? "Das lässt sich pauschal nicht sagen", sagt Meya. "Wir gehen bei unseren Analysen von einem Modell aus. In der Realität spielen viele weitere Faktoren eine Rolle. Dass die Fallzahlen so niedrig bleiben, spricht für den Erfolg der Lockerungen."

Die Bundesländer haben Kitas und Schulen zumindest teilweise geöffnet, ebenso wie Restaurants, Cafés und Hotels, ohne dass die Infektionszahlen deutlich gestiegen sind. Allerdings können Wochen vergehen, bis sich die Auswirkungen der Lockerungen in den Statistiken zeigen.

Dass verfrühte Lockerungen zu einem erneuten Anstieg der Fallzahlen führen können, zeigt sich derzeit in Iran, wo die Fallzahlen wieder deutlich steigen. Präsident Hassan Rohani schließt einen erneuten Shutdown trotz der neuen Infektionswelle aus – zu groß ist die Angst vor den wirtschaftlichen Folgen.

Donald Trump überzeugt: "Virus stirbt aus"

Auch in den USA steigen die Fallzahlen in 22 Bundesstaaten an. Auf seine geplanten öffentlichen Auftritte will Donald Trump trotzdem nicht verzichten. Auch einen erneuten Lockdown hat er ausgeschlossen. Das Virus sterbe aus, sagte der US-Präsident jüngst in einem Interview.

"Unsere Analysen zeigen: Freiwillige Kontaktbeschränkungen können das Infektionsgeschehen deutlich abbremsen", sagt Meya. "Aber sich allein auf sie zu verlassen, ist riskant." Solange die Zahl der Infektionen hoch ist, sind Menschen wahrscheinlich eher bereit auf Kontakte zu verzichten, um sich und andere zu schützen. Doch was, wenn die Zahlen wieder sinken wie nun in Deutschland?

Auswertungen von Mobilfunkdaten zeigen, dass die Menschen wieder mehr unterwegs sind. "Viele Menschen werden unvorsichtiger, setzen sich etwa ohne Maske in die U-Bahn", sagte auch der Oberbürgermeister von Berlin-Neukölln, Martin Hikel, im Interview mit dem SPIEGEL.

In Berlin sind die Infektionszahlen zuletzt wieder angestiegen. Wahrscheinlich werden sich die Fallzahlen durch Nachmeldungen auch noch weiter erhöhen, teilte die Senatsverwaltung für Gesundheit auf Anfrage mit.

Ob die "Black Lives Matter"-Demonstrationen oder Schlauchbootpartys eine Rolle spielen, ist unklar. "Wir müssen nach wie vor davon ausgehen, dass bei Ansammlungen von Menschen ein erhebliches Gefahrenpotenzial für die Ansteckung mit Covid-19 besteht", schreibt die Senatsverwaltung.

Weil die Teilnehmer oft aus verschiedenen Orten kommen, lässt sich der Effekt von Kundgebungen ohnehin nur schwer ablesen, teilte das Robert Koch-Institut (RKI) auf Anfrage mit. Insgesamt sei das Infektionsrisiko im Freien jedoch deutlich geringer als in geschlossenen Räumen.

Wer sich aus dem Weg gehen will, muss es auch können

Tatsächlich scheinen die aktuellen Ausbrüche vor allem auf beengte Wohnverhältnisse zurückzugehen. Der jüngste Ausbruch in Berlin betrifft mehrere Wohnhäuser in Neukölln, in denen sich teilweise zehn Personen eine Dreizimmerwohnung teilen.

Beengte Wohnverhältnisse könnten auch zum Ausbruch in der Tönnies Fleischfabrik in Gütersloh beigetragen haben. Der Konzern bestreitet die Vorwürfe. Laut Tönnies haben sich wahrscheinlich polnische und rumänische Angestellte bei Heimreisen über das lange Wochenende an Fronleichnam mit dem Virus angesteckt.

Experten zweifeln jedoch an dieser Erklärung. Einzelne Wochenendbesuche können eine so große Zahl an Neuinfektionen nicht erklären, sagte die Infektiologin Isabella Eckerle von der Universität Genf der Nachrichtenagentur dpa. Dazu sei die Inkubationszeit zu lang. Die Zahlen sprächen eher für einen länger zurückliegenden Ausbruch, der erst jetzt entdeckt wurde.

Solche lokalen Ausbrüche ändern nichts am Infektionsrisiko für ganz Deutschland – solange sie schnell unter Kontrolle gebracht werden. Doch sie beweisen: Das Virus ist noch da. Ob es erneut zu Ausbrüchen kommt, entscheidet jeder selbst mit, ein bisschen wie beim Klimawandel eben.

Icon: Der Spiegel

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