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China versus Indien im Himalaja: Prügelei zwischen Atommächten

June 17
17:18 2020
Den Feind im Blick: Indische Grenzer im Himalaja Icon: vergrößern

Den Feind im Blick: Indische Grenzer im Himalaja

TAUSEEF MUSTAFA/ AFP

Die Soldaten verfügten über Gewehre und Panzer, aber sie rührten ihre Waffen nicht an. Stattdessen sollen sie mit Fäusten und Eisenstangen aufeinander losgegangen sein. Von mit Nägeln bestückten Bambusstöcken ist die Rede. Davon, dass chinesische und indische Soldaten einander totgeprügelt haben könnten, dass sie womöglich einen Abhang abgestürzt und bei Temperaturen unter null erfroren sind.

Noch ist unklar, was genau sich tatsächlich in der Nacht zu Dienstag auf mehr als 4000 Meter Höhe im Himalaja abgespielt hat. Nur so viel zeichnet sich ab: Es gibt seit Anfang dieser Woche einen Konflikt mehr, um den die Welt sich sorgen muss.

Am Dienstag wurde bekannt, dass bei der Auseinandersetzung in den Bergen mindestens 20 indische Soldaten gestorben sind. Die Meldung schürt Ängste. Denn es ist das erste Mal seit 45 Jahren, dass der Konflikt zwischen China und Indien wieder Menschenleben gefordert hat. Ein uralter Streit zwischen den beiden bevölkerungsreichsten Ländern der Welt, zwei Nuklearmächten noch dazu, droht damit wieder zu entflammen.

China und Indien stehen sich in der Bergregion Ladakh militärisch gegenüber. Die beiden Nachbarn streiten um den genauen Verlauf der Grenze zwischen ihren Ländern. 1962 führte der Streit zu einem kurzen Krieg, den China gewann. Seitdem kommt es immer wieder Scharmützeln: Patrouillen geraten im Grenzgebiet aneinander; und weil der Einsatz von Waffen verpönt ist, prügeln sich die Soldaten oder werfen Steine aufeinander.

Die jetzige Eskalation reicht bis in den April zurück. Damals besetzte die chinesische Volksbefreiungsarmee eine Reihe von Grenzposten. Das indische Militär schickte Hunderte Soldaten in die Region. Die beiden Staaten werfen einander nun vor, in das Gebiet des jeweils anderen eingedrungen zu sein. Doch anders als bei früheren Konflikten dieser Art beschränkt sich die jetzige Auseinandersetzung nicht auf eine einzige Stelle.

Laut Medienberichten soll es auf einer Länge von mehreren hundert Kilometern hinweg mehrfach zu Grenzüberschreitungen gekommen sein. Zum ersten Mal erhebt China außerdem Anspruch auf ein Gebiet, dass in den Augen der Inder bislang nicht zur Diskussion stand. Es war in eben jenem Galwan-Tal, dass die indischen Soldaten starben. Neu-Delhi wirft Peking nun vor, "den Status Quo entlang der Grenze" ändern zu wollen. Im Parteiblatt der chinesischen Volksbefreiungsarmee heißt es dagegen heute: "Indische Truppen hätten ihr Versprechen gebrochen" und hätten das chinesische Militär "bewusst provoziert und angegriffen".

Das Verhältnis der beiden asiatischen Großmächte ist seit jeher von Spannungen geprägt. Aber bislang waren die Staatschefs beider Länder darauf bedacht, dass aus Rivalität keine Feindschaft wird.

Indiens Premier Narendra Modi und Chinas Präsident Xi Jinping haben sich seit 2014 ganze 18 mal getroffen. Zu ihrem gemeinsamen Markenzeichen gehören sogenannte "informelle Gipfel": Dort konnte man Modi und Xi mal beim Schaukeln auf einer Bank beobachten, ein anderes Mal beim Schlürfen von Kokosnüssen.

Das Ende des "Wuhan Spirit"

2018 trafen sich die beiden ausgerechnet in der chinesischen Stadt Wuhan, die als Ursprungsort für das neue Coronavirus gilt. Bis heute ist deswegen im Verhältnis der beiden zueinander vom sogenannten "Wuhan Spirit" die Rede. Der lässt sich so beschreiben: Wir mögen dem Aufstieg des jeweils anderen misstrauen; aber unsere Länder sind zu groß, einander geografisch zu nah, als dass wir es uns leisten könnten, Feinde zu sein.

Es gibt eine Reihe von Gründen, warum die chinesische Seite ihre Einschätzung gegenüber Indien gerade jetzt geändert haben könnte:

  • China findet, dass Indien zu forsch auftritt. Neu-Delhi hat vergangenes Jahr eine Straße fertigstellt, die es dem Militär künftig erleichtert, Truppen ins Grenzgebiet zu verlegen.

  • Indien, das stets mühevoll darauf bedacht war, sich auf keine Seite zu schlagen, rückt zudem zunehmend näher an die USA. Erst im Februar schlossen US-Präsident Donald Trump und Modi einen Verteidigungsdeal in Höhe von umgerechnet 3,5 Milliarden Dollar ab. Die USA sind Chinas großer Konkurrent.

"Jede Krise ist auch eine Chance" – in den Augen des indischen Geostrategen Brahma Chellaney hat sich Xi sich diese Lektion zu Herzen genommen. Die Coronakrise hat auch Indien schwer zugesetzt.

Die Wirtschaft wird dieses Jahr vermutlich zum ersten Mal seit 40 Jahren schrumpfen. Delhi fürchtet, dass die Krankenhäuser der Stadt schon in wenigen Wochen überlastet sein könnten. Chellaney glaubt, dass China Indiens Moment der Schwäche ausnutzen will: "Xi will sich Stück für Stück indisches Terrain einverleiben."

Tatsächlich zeigt sich Chinas Führung nach außen zunehmend selbstbewusst – und aggressiv. Peking ist dabei, die Machtverhältnisse im Südchinesischen Meer zu verschieben. Es hat sich daran gemacht, Hongkongs Unabhängigkeit de-facto zu beenden. Warum aufhören, wenn es gerade so gut läuft? Chinas Armee ist fast viermal so groß wie die indische, sein Bruttoinlandsprodukt übertrifft das indische um ein Fünffaches.

Kein schnelles Ende in Sicht

Wahr ist allerdings auch: Keines der beiden Länder kann ein Interesse daran haben, dass der Konflikt eskaliert. Diplomaten auf beiden Seiten bemühen sich derzeit im Hintergrund darum, die Lage zu entschärfen. Doch ein Kompromiss könnte den beiden Ländern schwer fallen. In einer ersten Reaktion sprach Modi davon, dass "Indien Frieden will". Aber auch zurückschlagen könne, wenn es provoziert wird.

Beide Länder werden von Nationalisten geführt, die nach außen hin hart auftreten müssen, um im Inneren stark zu wirken – jetzt in der Coronakrise mehr als je zuvor. Besonders Modi befindet sich in einer schwierigen Lage: Er hat die Wahl im letzten Jahr auch damit gewonnen, dass er als starker Mann aufgetreten ist, der den Erzfeind Pakistan in die Schranken gewiesen hat. Jetzt wirkt es, als hätte er sich Modi von Xi an der Nase herumführen lassen und traue sich nicht, dem Chinesen etwas entgegenzusetzen.

Es ist die vermeintliche Stärke der beiden Regierungschefs, die sich in der Krise als Schwäche herausstellen könnte: Beide müssen als Gewinner aus diesem Kräftemessen hervorgehen. Das macht die jetzige Lage so heikel.

Icon: Der Spiegel

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