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Walter Lübcke: So begann der Prozess in Frankfurt am Main

June 16
21:31 2020
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Angeklagter Ernst vor Gericht: Ihm droht lebenslange Freiheitsstrafe

Thomas Lohnes/ dpa

Stephan Ernst taugt nicht für den rechtsextremen Heldenmythos. Er hat zwar nach Überzeugung der Ermittler die Parole gewaltbereiter Neonazis umgesetzt ("Taten statt Worte") und einen Vertreter des von ihm verhassten Staats erschossen, wie er in einer ersten Vernehmung einräumte und inzwischen abstreitet, aber er hat auch einen Kumpel mit in die Sache reingezogen. Und die rechte Szene ist nachtragend.

So ist an diesem Dienstagmorgen kein erkennbarer Gesinnungsgenosse gekommen, um sich in die Schlange vor dem Oberlandesgericht Frankfurt am Main einzureihen und Stephan Ernst, wie es bei Prozessen gegen Neonazis üblich ist, solidarisch beizustehen.

Die ersten Zuhörer stellen sich bereits am Abend zuvor unter die Inschrift "Die Würde des Menschen ist unantastbar", um ins Gerichtsgebäude zu kommen. Zur Eindämmung der Corona-Pandemie gibt es statt 120 Plätzen im Saal lediglich 37, davon sind 19 für Journalisten. Für 41 weitere ist ein Medienraum eingerichtet, in den der Ton aus Saal 165 übertragen wird.

Es ist ein historisches Verfahren: Der Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, der sich in der Flüchtlingskrise 2015 für die Unterbringung von Asylsuchenden einsetzte, war wohl der erste rechtsterroristisch motivierte Mord an einem Politiker in der Bundesrepublik.

Stephan Ernst, 46, gilt als Haupttäter. Laut Anklage schlich er in der Nacht zum 2. Juni 2019 auf die Terrasse der Familie Lübcke im hessischen Wolfhagen-Istha und schoss Walter Lübcke mit einem Rossi-Revolver Kaliber .38 in den Kopf. Ermittler sprechen von einer "Hinrichtung".

Lübckes Sohn Jan-Hendrik fand den Vater nach Mitternacht in einem Gartenstuhl. Mit seiner Mutter Irmgard und seinem Bruder Christoph zieht er um 9.57 Uhr hinter Rechtsanwalt Holger Matt in den Gerichtssaal ein – wie bei einer Prozession. Sie bleiben hinter den ihnen zugewiesenen Plätzen stehen, aufrecht, den Blick fest auf die noch leere Anklagebank gegenüber gerichtet.

Ihre Haltung ist eine Botschaft. Sie treten in dem Verfahren auch als Nebenkläger auf, um ein Zeichen gegen Hass und Gewalt, gegen Rechtsextremismus und ein Klima der Angst zu setzen, wie es ihr Anwalt in einer Stellungnahme vor dem Prozess kundgetan hat.

Die Familie wendet sich nicht ab, als elf Minuten später der mutmaßliche Helfer Markus H. hereingeführt wird, die Hände auf den Rücken gefesselt. Ein feister Mann mit Glatze, Kinnbart und Bauch in einem engen Poloshirt und Kapuzenpulli. Er duckt sich hinter einen Aktenordner.

Als Letzter betritt Stephan Ernst den Saal, ebenfalls in Handschellen. Er trägt einen schwarzen Anzug, darunter ein weißes Hemd. Ein großer Mann mit grauem Gesicht. Er nimmt den Mundschutz ab und versteckt sich nicht. Lübckes Witwe und die beiden Söhne blicken unerschrocken zu ihm hinüber.

Die folgenden Stunden fasst ihr Anwalt später so zusammen: "Es ist für uns schwer erträglich, diesen Vormittag als Beginn der Hauptverhandlung zu erleben." Er meint die Flut von Anträgen, die die Verteidiger der Reihe nach stellen: Ablehnungsgesuche, Aussetzungsanträge, Rügen wegen Vorverurteilungen. "Es wird im Teich rechtsstaatlicher Prinzipien gefischt, ohne dass eine Verletzung dieser Prinzipien zu erkennen ist", konstatiert Anwalt Matt.

Hinter ihm sitzt ein weiterer Nebenkläger: Ahmad E., ein Flüchtling aus dem Irak. Stephan Ernst soll ihm am 6. Januar 2016 im Industriegebiet Lohfelden beim Vorbeifahren mit dem Fahrrad ein Messer in den Rücken gerammt haben. Ernst muss sich deshalb auch wegen versuchten Mordes verantworten.

Die beiden Angeklagten verband nach Ansicht des Generalbundesanwalts ein "von Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und der Ablehnung des liberalen Rechtsstaats und seiner Repräsentanten geprägtes Weltbild". Markus H., 44, gelernter Bäcker und Industriemechaniker, sei ein ideologischer Hetzer und Scharfmacher, er soll Stephan Ernst in seinem Vorhaben bestärkt haben und ist wegen Beihilfe zum Mord angeklagt.

Erst am Nachmittag trägt Oberstaatsanwalt Dieter Killmer die Anklage vor, insgesamt umfasst sie 322 Seiten. Es sei Ernst darauf angekommen, so Killmer, durch Walter Lübckes Ermordung "ein öffentlich beachtetes Fanal gegen die gegenwärtige staatliche Ordnung" zu setzen.

Stephan Ernst verfolgt die Vorwürfe mit unbewegter Miene, er wirkt in sich gekehrt, fast teilnahmslos. Er wird flankiert von seinen beiden Verteidigern: Frank Hannig aus Dresden, Rechtsanwalt und Stadtrat mit eigenem YouTube-Kanal, und Mustafa Kaplan, der im NSU-Prozess in München die Nebenklage vertrat und im Satirestreit mit Jan Böhmermann den türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan. In einer Verhandlungspause sagen sie: "Wir verteidigen Menschen, keine Taten."

Markus H. liest die Anklageschrift aufmerksam mit. Er wird von Szeneanwälten verteidigt: von Björn Clemens, einem ehemaligen Vizebundesvorsitzenden der "Republikaner", der großen Wert auf seinen Doktortitel legt und den sich kurzzeitig der verurteilte NSU-Unterstützer André E. als Ersatzverteidiger ausgesucht hatte. Auf seine Kanzlei sei an diesem Morgen ein Farbanschlag verübt worden, teilt Clemens dem Gericht mit, er beantragt eine Überwachung seines Büros.

Zweite Pflichtverteidigerin ist Nicole Schneiders, die den einstigen NPD-Funktionär Ralf Wohlleben im NSU-Prozess vertrat. Ihre Beiordnung ist ausführlich Thema an diesem ersten Verhandlungstag: Sie hatte Stephan Ernsts ersten Verteidiger vertreten, der den mutmaßlichen Mörder inzwischen angezeigt hat. Ernsts Verteidiger unterstellen ihr dadurch einen Wissensvorsprung.

"Nutzen Sie Ihre beste Chance", sagt der Richter

An Stephan Ernst scheinen die Stellungnahmen und Erklärungen zu den Anträgen abzuprallen. Am Nachmittag hat er sein Sakko ausgezogen. Da sitzt er nun im weißen Hemd: Ein Vater von zwei Teenagern, der für sehr lange Zeit nicht in sein Einfamilienhaus mit Garten am Stadtrand von Kassel-Forstfeld zurückkehren könnte. Ihm droht eine lebenslange Freiheitsstrafe, die Feststellung der besonderen Schwere der Schuld, sogar Sicherungsverwahrung.

Der Vorsitzende Richter Thomas Sagebiel versucht ihm an diesem ersten Prozesstag ins Gewissen zu reden. Seit zehn Jahren leite er den Staatsschutzsenat, sagt Sagebiel, seit 35 Jahren sei er Richter. "Hören Sie nicht auf Ihre Verteidiger, hören Sie auf mich." Ein "von Reue getragenes Geständnis" zahle sich perspektivisch immer aus. "Nutzen Sie Ihre beste Chance, vielleicht ist es auch Ihre einzige."

Zunächst werde Stephan Ernst auf seine Verteidiger hören, entgegnet Anwalt Kaplan. Dies gelte zumindest für den Beginn des Verfahrens, bedeute aber nicht, dass Stephan Ernst in dem Verfahren "gar keine Angaben" machen werde.

Zwei Wochen nach dem Mord an Lübcke wurde Ernst festgenommen. Bis dahin hatte er als Industriemechaniker gearbeitet. Nach elf Tagen packte er in einer Vernehmung aus, ohne einen Anwalt an seiner Seite, aufgezeichnet auf Video. Er beschrieb die Tat, seine Motive, das Versteck der Tatwaffe. Und wie er 2016, 2017 und 2018 schon einmal zu Lübckes Haus fuhr, eine Waffe bei sich, und sich dann für den 2. Juni 2019 entschied, wenn wieder "Weizenkirmes" war, weil er den Terror zu den Feiernden tragen wollte.

Die Anklage beruft sich auf dieses erste Geständnis. Später widerrief es Stephan Ernst und sagte, er sei auf der Terrasse gewesen, geschossen aber habe Markus H.

Sein Hass auf Ausländer keimte früh: Stephan Ernst war 15 Jahre alt, als er ein Haus anzünden wollte, in dem mehrere türkische Familien wohnten. Er verschüttete Benzin, legte Feuer im Keller, verletzt wurde niemand. Er war 19, als er auf der Toilette des Wiesbadener Hauptbahnhofs einem türkischen Imam ein Messer in den Rücken und anschließend in die Brust rammte. Der Mann überlebte knapp. Ein Jahr später deponierte er eine Rohrbombe in einem Auto, das er zwischen Containern parkte, in denen Asylsuchende untergebracht waren.

Nach vier Jahren im Gefängnis zog Stephan Ernst nach Kassel, fand in der dortigen Neonaziszene eine Heimat. Er trat der NPD bei und nahm an Gedenkmärschen für Rudolf Heß und an die Dresdner Bombennacht teil. Noch 2009 stufte ihn der Verfassungsschutz als "brandgefährlich" ein: Stephan Ernst war bei einer DGB-Kundgebung auf Demonstranten losgegangen und wurde verurteilt.

Danach hielt er sich zurück und so verzeichnete der Verfassungsschutz wenige Jahre später Stephan Ernst als Rechtsextremisten, der "abgekühlt" sei; als einen, der sich aus der rechten Szene gelöst und seinen Lebensinhalt aufs Private fokussiert habe. Doch Stephan Ernst, so belegen es Fotos, marschierte weiter mit bei Kundgebungen von Rechtsextremisten, engagierte sich bei der AfD, half beim Wahlkampf, spendete für die "Identitäre Bewegung" und übte sich mithilfe seines Freundes Markus H. im Schießen.

Er buhte und rief "Verschwinde!"

In seiner ersten Vernehmung sprach Stephan Ernst von Schlüsselmomenten, die zu seinem Entschluss geführt hätten, einen "Volksschädling" wie Walter Lübcke zu töten: die Übergriffe von Nordafrikanern in der Kölner Silvesternacht, der islamistische Anschlag in Nizza, der Mord an der Freiburger Studentin Maria L. und die Hinrichtung zweier Rucksacktouristinnen in Marokko.

Den letzten, entscheidenden Kick aber habe ihm der 14. Oktober 2015 gegeben, als Walter Lübcke im Bürgerhaus von Lohfelden bei Kassel über die Erstaufnahmeeinrichtung für Geflüchtete in einem leer stehenden Baumarkt sprach. Der CDU-Politiker will die Bewohner damals informieren und die beruhigen, die den Zuzug als Bedrohung sehen. Stephan Ernst und Markus H. sitzen im Publikum, fast ganz hinten. Markus H. filmt, Stephan Ernst buht und ruft "Verschwinde!" So ist es auf dem Video zu hören.

Walter Lübcke sagte an jenem Abend: "Und da muss man für Werte eintreten, und wer diese Werte nicht vertritt, der kann jederzeit dieses Land verlassen, wenn er nicht einverstanden ist. Das ist die Freiheit eines jeden Deutschen."

Stephan Ernst und Markus H. stellten das Handyvideo ins Internet und machen den Politiker zum Feindbild, zum Hassobjekt der rechten Szene. Der 65-Jährige war ab diesem Zeitpunkt der "Volksschädling", der Vertreter des von ihnen verhassten Staats. Diese Worte kosteten Walter Lübcke das Leben.

Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version des Artikels wurde Björn Clemens als ehemaliger Bundesvorsitzender der "Republikaner" bezeichnet, er war jedoch Vizevorsitzender.

Icon: Der Spiegel

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