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Krankenkassen: Müssen die Beiträge bald doch steigen?

June 15
20:40 2020
Apothekerin in Markkleeberg, Sachsen Icon: vergrößern

Apothekerin in Markkleeberg, Sachsen

Jan Woitas/ picture alliance

Im Frühjahr, die Welt schien noch in Ordnung und Deutschland zählte keinen einzigen Corona-Toten, verkündete Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU), dass die "Krankenkassen endlich ihre übermäßig hohen Finanzreserven abbauen". Das war am 6. März, die Politik in Berlin tickte da noch nach der Logik des Aufschwungs: Sie verwaltete Überschüsse.

Das ist dreieinhalb Monate her, wirkt aber Lichtjahre entfernt von der neuen Realität. Die Coronakrise hat Deutschlands langen Boom beendet. Die Zeit der Milliardenüberschüsse ist abrupt zu Ende gegangen. Der eben noch luxuriös wirkende Milliardenpuffer der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) schmilzt. Bis Ende 2020 könnte beim Gesundheitsfonds ein Defizit von zwölf Milliarden Euro auflaufen, wie der Gesundheitsökonom Jürgen Wasem von der Universität Duisburg-Essen vorrechnet. Mitte Januar hatte der Fonds noch 10,2 Milliarden Euro Guthaben.

Spahn hat bereits angekündigt, wegen der Krise den Bundeszuschuss für die GKV um 3,5 Milliarden Euro aufzustocken. Das dürfte nicht die letzte Finanzspritze bleiben, wenn die Große Koalition ihr Versprechen halten will, die Sozialbeiträge nicht über 40 Prozent steigen zu lassen.

Nach Jahren guter Konjunktur steuert die gesetzliche Krankenversicherung auf schwierigere Zeiten zu. Die Pandemie ist dabei nur ein Faktor, hinzu kommen langfristige Verschiebungen, die den finanziellen Spielraum der Kassen einschränken.

Dazu zählen …

– direkte Corona-Kosten, etwa für Tests oder Ausfallvergütungen von Kliniken und Praxen
– ein geringeres Wachstum der Beitragseinnahmen, vielleicht sogar ihr Sinken
– von der Politik beschlossene höhere Ausgaben.

Warum kurzfristig keine höheren Beiträge drohen

Diese Entwicklungen spielen sich zunächst in einem Bereich ab, der die Versicherten zumindest in diesem Jahr kaltlassen kann. Das hat zu tun mit der eigenartigen Konstruktion der GKV. Die Kassen ziehen zwar die Beiträge ihrer Mitglieder ein. Seit einigen Jahren leiten sie den Großteil allerdings weiter an den Gesundheitsfonds. Von dort wiederum werden die Gelder nach einem komplexen Schlüssel zurück auf die Krankenkassen verteilt.

Dieses Konstrukt wirkt in schlechten Zeiten wie ein erster Puffer. Selbst rasant einbrechende Beitragseinnahmen führen zu keinem unmittelbaren Druck auf die Versicherungsbeiträge. Das liegt daran, dass die Zuweisungen an die Kasse im Vorjahr fixiert werden und auch in akuten Krisen nicht verändert werden.

Allerdings hat der Fonds begonnen, seinen Spielraum zu nutzen beim Timing der Überweisungen: Vor Krisenausbruch und mit gut gefüllten Kassen überwies er die Chargen bereits zwei Wochen vor Ablauf der Frist. Inzwischen aber wird diese "stärker ausgeschöpft", wie das Bundesamt für Sozialversicherung (BAS) dem SPIEGEL mitteilt. Grund dafür seien die zahlreichen Corona-Hilfen für Krankenhäuser und Ärzte, aber auch die "aufgrund der geringeren Beitragseinnahmen reduzierte Liquidität". Für einige Krankenkassen mit knapp bemessenen Reserven könnte das zu Problemen führen. In der Vergangenheit galt etwa die DAK als Kasse mit angespannter Finanzlage.

Wie die derzeitige Krise auf die Kassenfinanzen durchschlägt, ist bislang kaum abzuschätzen. Im Grundsatz gilt: Weil die Kassenbeiträge auf Löhne und Gehälter erhoben werden, geraten die Einnahmen der GKV unter Druck, wenn Rezessionen den Arbeitsmarkt erreichen. Noch ist allerdings unklar, wie stark die Arbeitslosigkeit in diesem Jahr steigt und wie sich die Zahl der Kurzarbeiter – zuletzt sieben Millionen – entwickeln wird. Sozialbeiträge werden für Kurzarbeiter gezahlt, allerdings in reduziertem Umfang.

Ein mögliches Minus von etwa 15 Milliarden Euro

Jürgen Wasem von der Universität Duisburg-Essen stellt deshalb eine Überschlagsrechnung an. Löhne und Gehälter seien in vergangenen Wirtschaftskrisen stets etwas geringer zurückgegangen, als die Wirtschaftsleistung insgesamt. Sinke das Bruttoinlandsprodukt 2020 also beispielsweise um acht Prozent, könne man im schlimmsten Falle mit GKV-Einnahmen von sechs Prozent unter Plan rechnen.

Das wäre ein Minus von etwa 15 Milliarden Euro gegenüber den Kalkulationen vom vergangenen Herbst. Da auf der anderen Seite zusätzliche Ausgaben in Milliardenhöhe anfallen dürften, müssten – sofern der Bund die Lücke nicht mit Steuergeld schließt – die Beitragssätze 2021 deutlich steigen: der gesetzlich festgelegte Beitragssatz an den Gesundheitsfonds von 14,6 auf 15,7 Prozent, die Zusatzbeiträge der Kassen im Schnitt von 1,1 auf 1,3 Prozent, so Wasem.

Es gibt Hinweise auf rückläufige Einnahmen. Während des Lockdowns stieg die Zahl der Firmen, die wegen finanzieller Schwierigkeiten eine Stundung der Arbeitgeberbeiträge beantragten. So berichtet etwa die AOK Hamburg Rheinland von einer Verzehnfachung der zur Stundung beantragten Summe im Vergleich zum Vorjahr. Das BAS wiederum meldet für April 5,4 Prozent weniger Beitragseinnahmen als im Vorjahresmonat. Im Mai habe sich die Lage mit einem Plus von 0,6 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat stabilisiert. Allerdings: In den vergangenen Jahren waren die Beitragseinnahmen im Schnitt um etwa vier Prozent pro Jahr gestiegen. Die Finanzierung des Gesundheitssystems kann also auch in Schieflage geraten, wenn die Einnahmen nicht im erwarteten Ausmaß steigen.

Gesamteffekt von Corona 2020? Unklar!

Ob am Jahresende 2020 allerdings tatsächlich ein Defizit im Gesundheitsfonds ausgeglichen werden muss, ist bei Experten umstritten. Martin Albrecht vom Berliner Iges-Institut sieht auch Entlastungen der Finanzen, er spricht von möglicherweise "enormen Minderausgaben" im Zuge der Coronakrise. Die Zahl der von den Kassen zu vergütenden Arztbesuche sei bislang drastisch zurückgegangen – weil viele Menschen Praxen aus Angst vor Ansteckung meiden. Seit Ausbruch der Pandemie seien auch die früher oft überfüllten Notaufnahmen der Kliniken weniger ausgelastet. Patienten würden auch zurückhaltend bleiben, "solange es keinen einsetzbaren Impfstoff gibt".

Dennoch besteht das Risiko, dass mittelfristig die fragile Balance zwischen Ausgaben und Einnahmen im Gesundheitssystem aus dem Gleichgewicht gerät. Gesundheitsausgaben wachsen in allen entwickelten Volkswirtschaften schnell, viel schneller jedenfalls, als die Wirtschaft insgesamt. In Deutschland war das die vergangenen Jahre kein erhebliches Problem, weil auch die Einnahmen ungewöhnlich schnell wuchsen, wegen des Booms am deutschen Arbeitsmarkt: Immer mehr Menschen nahmen einen Job auf, viele davon wurden auch zu Beitragszahlern. Diese Entwicklung kommt aller Voraussicht in wenigen Jahren zum Ende, weil immer mehr Menschen in Rente gehen (einen Hintergrundbericht zu dem Problem finden Sie hier).

Dann könnten Begriffe wieder auf den Tagesordnungen in Berlin auftauchen, die wohl kaum ein Regierungspolitiker dort gern sehen möchte: Gesundheitsreform, Kostendämpfungsgesetz, Kosten-Nutzen-Abwägungen. Das sind Chiffren, die für unpopuläre Kürzungs-Diskussionen und schwierige Fragen stehen: Welche Behandlungen und Medikamente sollen weiter erstattet werden? Wie viele Krankenhausstandorte kann Deutschland sich leisten?

Viel Spielraum haben SPD und Union sich selbst nicht gelassen: Die durchschnittliche Belastung durch die Sozialbeiträge liegt mit 39,75 Prozent bereits jetzt nur knapp unter der 40-Prozent-Marke der "Sozialgarantie" des Konjunkturpakets – und auf Renten- und Arbeitslosenversicherung kommen ebenfalls harte Zeiten zu. Wahrscheinlich ist deshalb, dass die Regierung dem Beispiel aus der Finanzkrise folgt – und den Bundeszuschuss deutlich erhöht. Das hatte sie das letzte Mal während der Rezession 2009 getan.

Verstärkt werden die Probleme dadurch, dass der Trend noch bis vor Kurzem in die entgegengesetzte Richtung lief: Mit Blick auf die gefüllten Kassen und die gute Konjunktur wurden teils noch 2019 einige Kostenbremsen gestrichen, mit denen Krankenkassen manche Ausgaben im Zaum halten konnten. Die Ausschreibungen für Hilfsmittel etwa wurden abgeschafft. Dafür gab es Gründe, zum Beispiel die mitunter miese Qualität bei Inkontinenz-Einlagen. Bei der Beschaffung hatten einige Kassen nur noch auf den Preis und kaum noch auf die Beschaffenheit geachtet.

Der Wegfall der Ausschreibungen hat aber auch an anderer Stelle Konsequenzen: So sind seit Inkrafttreten des Gesetzes im Mai 2019 die Beschaffungskosten für medizinischen Sauerstoff um mehr als 60 Prozent gestiegen.

Wolfgang Greiner, Professor für Gesundheitsökonomie an der Universität Bielefeld, sieht die Gesundheitspolitik nun vor einer Zeitenwende. Unter den heute aktiven Gesundheitspolitikern seien "viele, die nie an harten Spargesetzen beteiligt waren". Wenn die Pandemie überwunden sei "muss es zu Strukturreformen kommen, spätestens nach der nächsten Bundestagswahl."

Icon: Der Spiegel

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