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Corona-Expertin Melanie Brinkmann: Keine Immunität in einem Sommer

June 15
13:40 2020
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Badesee in Baden-Württemberg: "Wir müssen das Infektionsgeschehen weiterhin unter Kontrolle behalten"

Christoph Schmidt/ DPA

SPIEGEL: Frau Brinkmann, viele Menschen gehen davon aus, dass sie nach einer Infektion mit dem neuartigen Coronavirus immun sind und nicht mehr an Covid-19 erkranken können. Ist die Hoffnung berechtigt?

Brinkmann: Bislang wissen wir, dass Menschen nach einer Infektion mit Sars-CoV-2 Antikörper produzieren – und zwar auch dann, wenn sie nur milde Symptome haben. Es gibt bislang kaum Berichte über Menschen, die nach einer durchgemachten Infektion erneut erkranken. Die Krankheit scheint also einen Immunschutz zur Folge zu haben, und das ist eine gute Nachricht. Allerdings ist bislang unbekannt, wie lange dieser Immunschutz anhält.

SPIEGEL: Es gibt noch immer viele Menschen, die sich dafür aussprechen, eine Herdenimmunität anzustreben. War das jemals ein realistischer Vorschlag?

Brinkmann: Herdenimmunität lässt sich durch einen Impfstoff, aber auch durch die natürliche Infektion aufbauen. Man hat zu Beginn der Pandemie über die Möglichkeit einer langsamen Durchseuchung durch natürliche Infektion diskutiert, diesen Weg aber sehr schnell verworfen. Es gibt in meinen Augen kaum Argumente, die für dieses Vorgehen sprechen. Es würde mehrere Jahre dauern, bis wir eine ausreichende Herdenimmunität aufgebaut hätten. Und dann wissen wir noch nicht, wie lange diese auf natürlichem Wege erworbene Immunität uns überhaupt schützen kann. Außerdem haben wir die möglichen Folgeschäden bei Menschen, die Covid-19 überstanden haben, noch lange nicht umfassend verstanden.

SPIEGEL: Lässt sich seriös schätzen, wie viele Menschen in Deutschland bereits eine Immunität gegen Sars-CoV-2 aufgebaut haben?

Brinkmann: Wahrscheinlich hat erst ein ganz niedriger einstelliger Prozentsatz der deutschen Gesamtbevölkerung Kontakt mit dem Virus gehabt. Wir sind also noch weit davon entfernt, dass man sagen kann, es bestehe eine gewisse Herdenimmunität. Bei den aktuell erfreulich niedrigen Infektionszahlen würden wir wohl Jahrzehnte benötigen, um einen solchen Effekt zu sehen.

SPIEGEL: Ihr Kollege Hendrik Streeck von der Universität Bonn hat gesagt, es könne in diesem Sommer möglicherweise eine Teilimmunität in der Bevölkerung aufgebaut werden. Ist er zu optimistisch?

Brinkmann: Ich glaube, wir verstehen diesen Begriff etwas unterschiedlich. Herr Streeck meint damit, dass ein Teil der Bevölkerung durch natürliche Infektionen Immunität aufbaut, dass wir uns also einer Herdenimmunität annähern könnten. Meiner Einschätzung nach wird das im Laufe eines Sommers allerdings nicht klappen – aus den bereits genannten Gründen.

SPIEGEL: Was verstehen Sie unter Teilimmunität?

Brinkmann: Die Teilimmunität bietet einen teilweisen Schutz vor der Erkrankung nach einer Infektion. Die Immunantwort ist sehr komplex, sie hat mehrere Komponenten. Diese Komponenten spielen eng zusammen – je besser sie das tun, desto stärker ist der Immunschutz. Wenn wir eine starke Immunität ausbilden, werden wir bei erneuter Infektion nicht krank und das Virus kann sich nicht nennenswert in unserem Körper vermehren. Ist die Immunität hingegen etwas schwächer ausgeprägt, dann hat das Virus vielleicht noch ein kurzes Zeitfenster, um sich in unserem Körper zu vermehren. Es hat dann deutlich mildere Symptome zur Folge, als wenn wir gar keine Immunität hätten – das ist dann die Teilimmunität. Viele Impfungen und auch durchgestandene Virusinfektionen verleihen uns nur eine Teilimmunität, zum Beispiel die gegen das Influenza-Virus.

SPIEGEL: Könnte auch das neuartige Coronavirus eine solche Teilimmunität auslösen?

Brinkmann: Ja, das ist wahrscheinlich. Von Infektionen mit den Erkältungs-Coronaviren wissen wir jedenfalls, dass wir keine starke Immunität aufbauen, denn dann wären diese Viren schon lange erledigt und würden uns nicht in jeder Wintersaison aufs neue heimsuchen. Es handelt sich sozusagen um eine Überlebensstrategie der Coronaviren, dass sie keinen langanhaltenden Immunschutz auslösen. Bei vielen Viren, gegen die wir nur eine Teilimmunität entwickeln, verändern sich die Viren übrigens im Laufe der Zeit, sie mutieren.

SPIEGEL: Christian Drosten hat in seinem NDR-Podcast eine weitere Form der möglichen Immunität angesprochen. Es handelt sich um die sogenannte Hintergrundimmunität. Was ist darunter zu verstehen?

Brinkmann: Man vermutet, dass manche Menschen eine Teilimmunität gegen das neuartige Coronavirus besitzen, weil sie bereits eine Infektion mit einem ähnlichen Virus durchgemacht haben. In diesem Fall sprechen wir von einer Hintergrundimmunität. Es liegt eine sehr gute Studie vor, die zeigt, dass bei einigen Menschen eine Immunität gegen Sars-CoV-2 existiert, die mit diesem neuartigen Virus aber noch gar nicht in Berührung gekommen sind. Grund dafür könnte sein, dass sie vorher bereits mit anderen Coronaviren Kontakt hatten. Eine Hintergrundimmunität kann aber auch aus anderen Gründen bestehen – auf Grund genetischer Faktoren zum Beispiel.

SPIEGEL: Das klingt vielversprechend.

Brinkmann: Ja, diese Forschung ist höchst spannend. Und möglicherweise könnte eine solche Hintergrundimmunität, wenn es sie denn gibt, das Ende der Pandemie schneller herbeiführen. Aber das ist derzeit noch völlig ungewiss. Was man jedoch klar sagen muss: Wenn es eine Hintergrundimmunität gibt, dann ist sie im ursprünglichen und auch im jetzigen R-Wert bereits eingepreist. Sie ändert also nichts daran, dass wir weiterhin durch unser Verhalten die Pandemie kontrollieren müssen. Das heißt: Abstand halten, Masken tragen, oder größere Ansammlungen von Menschen vor allem in geschlossenen Räumen vermeiden.

SPIEGEL: Herr Streeck plädiert dafür, dass wir uns "über den Sommer ein bisschen mehr Mut erlauben" sollten, also zum Beispiel Schulen und Kitas wieder öffnen könnten. Halten Sie das für vertretbar?

Brinkmann: Schulen und Kindergärten zu öffnen, ist meiner Meinung nach richtig und notwendig. Kinder selbst erkranken ja kaum, zumindest nur sehr wenige. Außerdem muss man, wie so oft im Leben, Risiken abwägen: Die gesellschaftlichen Kosten von Bildung auf Sparflamme sind immens bei aktuell überschaubaren Risiken. Also ja: Auch ich wäre jetzt mutiger. Allerdings sage ich das nicht, weil ich denke, dass wir dadurch eine Durchseuchung vorantreiben sollten. Ganz im Gegenteil – wir müssen das Infektionsgeschehen weiterhin unter Kontrolle behalten, um mit sehr niedrigen Infektionszahlen in den Herbst und Winter zu kommen. Ich glaube aber, dass jetzt der Zeitpunkt günstig ist: Im Sommer halten wir uns vermehrt draußen auf, was die Verbreitung des Virus erschwert. Und die Sommerferien stehen kurz bevor. Wir sollten diese Zeit jetzt nutzen, um den Bildungsbereich zügig hochzufahren.

Icon: Der Spiegel

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