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Corona: Zurückgezogene Covid-19-Studien – das steckt hinter der Datenbank von Surgisphere

June 14
14:39 2020
Wegen des Skandals um Surgisphere mussten entscheidende Corona-Studien zurückgezogen werden Icon: vergrößern

Wegen des Skandals um Surgisphere mussten entscheidende Corona-Studien zurückgezogen werden

Laurence Dutton/ Getty Images

Dies ist eine Geschichte, deren Rahmenhandlung menschlicher kaum sein könnte. Familienbande spielen eine Rolle und Menschen, die von dem Versprechen, an etwas Großem teilzunehmen, in den Bann gezogen werden. Sie handelt von der Sogwirkung, die eine vermeintlich gute Sache entwickeln kann – und welch verhängnisvolle Wirkung das Handeln in gutem Glauben haben kann.

Der bislang wohl größte Wissenschaftsskandal in der Coronakrise nahm öffentlich am 22. Mai seinen Anfang. An diesem Freitag publizierte das renommierte Fachblatt "Lancet" eine Studie, deren Ergebnisse beachtlich waren. Hydroxychloroquin, ein Wirkstoff, der in Dutzenden Studien weltweit als Therapie von Covid-19 getestet wird, bewirkte scheinbar genau das Gegenteil als erhofft. Statt zu helfen, könnte das eigentlich zur Behandlung von Malaria zugelassene Mittel die Patienten sogar umbringen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und mehrere Länder, darunter auch Deutschland, pausierten daraufhin laufende klinische Untersuchungen.

Angeblich basierte die "Lancet"-Studie auf den Behandlungsdaten von 96.000 Covid-19-Patienten, die 671 Krankenhäuser weltweit an die US-Firma Surgisphere gemeldet hatten. Die Angaben waren außergewöhnlich detailliert, gerade in der Coronakrise wäre eine solche Datenbank ein echter Schatz.

Inzwischen deutet aber immer mehr darauf hin, dass die Daten zu gut waren, um wahr zu sein. Dass es einen solchen Schatz gar nicht gibt.

"Für Afrika existieren solche großen Datenbanken einfach nicht"

Die Zweifel an ihrer Echtheit sind erheblich. In der Statistik für Australien tauchen mehr Tote auf, die im Zusammenhang mit einer Corona-Infektion gestorben sind, als offiziell überhaupt gemeldet wurden. Surgisphere versuchte das später damit zu erklären, dass in die Auswertung für Australien versehentlich Daten aus einem Krankenhaus in Asien eingeflossen seien. Seitdem schweigt Surgisphere zu den Vorwürfen.

Doch auch die angegebenen Zahlen für Afrika sind so hoch, dass fast ein Viertel der bekannten Covid-19-Fälle des Kontinents und mehr als jeder dritte Tote in einem der Krankenhäuser behandelt worden sein müsste, auf deren Angaben sich die Studie stützt. Zudem waren die Daten erstaunlich detailliert.

"Für Afrika existieren solche großen Datenbanken, wie Surgisphere behauptet zu haben, einfach nicht", teilte der Infektiologe Joe Jarvis vom National Institute for Health Research dem SPIEGEL auf Anfrage mit. In Botswana, wo Jarvis derzeit forscht, gebe es keine elektronischen Daten darüber, welche Medikamente im Krankenhaus verschrieben werden. Allenfalls Ergebnisse von Labortests und die Anzahl der Verstorbenen würden digital erfasst und selbst das in unterschiedlichen Registern.

"Außer einigen Privatkrankenhäusern in Südafrika und in wenigen Großstädten verwendet fast kein afrikanisches Krankenhaus überhaupt elektronische Patientenakten", so Jarvis. Und selbst wenn, sei die Datenqualität nur in den allerwenigsten Fälle so detailliert, wie Surgisphere behauptet.

Doch nicht nur die außergewöhnlich gute Datenqualität lässt aufhorchen. Auch die Quelle.

Vor Veröffentlichung der Studie war die kleine Firma im US-Bundesstaat Illinois in der Wissenschaftswelt so gut wie unbekannt. Erstaunlich, dass ausgerechnet sie plötzlich über diese gewaltige Datenbank mit Informationen von Zehntausenden Covid-19-Patienten aufwarten konnte.

Wie hatte es ein Unternehmen mit nur einer Handvoll Mitarbeiter geschafft, Krankenhäuser auf der ganzen Welt zu überzeugen, sensible Patienteninformationen zu teilen und eine Datenbank zu unterhalten, für die andere Unternehmen Hunderte Mitarbeiter beschäftigen? Vermutlich gar nicht, legen Indizien nahe, die unter anderem der "Guardian" zusammengetragen hat.

Unabhängige Prüfung der Studie platzte

Je weiter die britischen Kollegen recherchierten, desto schneller begann das Fundament hinter der ganzen Geschichte zu bröckeln. Denn bisher hat keine Klinik bestätigt, mit Surgisphere zusammenzuarbeiten. Im Gegenteil, alle bisher von Medien kontaktierten Krankenhäuser gaben an, nicht an der Datenbank beteiligt zu sein. Mehrere Kliniken hätten noch nicht einmal von dem Unternehmen gehört. Dabei wurden in den angeschriebenen Krankenhäusern besonders viele Covid-19-Patienten behandelt. Ohne die Daten aus diesen Kliniken auf so hohe Fallzahlen zu kommen, ist unwahrscheinlich.

Die Studie ist mittlerweile zurückgezogen. Zunächst hatte der Chef von Surgisphere, Sapan Desai, der auch als Co-Autor der Studie genannt wird, eine unabhängige Untersuchung zugesagt. Das Versprechen entpuppte sich als womöglich letzter Versuch, die Story vom erfolgreichen Kleinunternehmen aufrechtzuerhalten. Dabei hatte Surgisphere offenbar nie vor, Einsicht in die Daten zu gewähren, weil das den Vertraulichkeitsvereinbarungen mit den Krankenhäusern widerspreche. Die unabhängige Überprüfung platzte.

Die Daten von Surgisphere waren auch die Grundlage für eine weitere Corona-Studie im ebenfalls renommierten Fachblatt "New England Journal of Medicine", die Anfang Mai erschien. Auch sie wurde zurückgezogen.

"In der Tat ein außergewöhnlicher Mann"

Eine Datenbank mit Zigtausenden Patientendaten zu erfinden, mit ihnen Wissenschaftler zu versorgen, die dann in renommierten Magazinen Studien veröffentlichen, deren Grundlage Fantasie ist, wäre ein gewaltiger Skandal. Bestätigt sich der Verdacht, stünde Sapan Desai als einer der hauptverdächtigen Drahtzieher im Mittelpunkt.

Der 41-jährige Gefäßchirurg ist in seiner beruflichen Laufbahn schon viel herumgekommen. Laut seinem Profil auf einer Jobplattform arbeitete er zunächst an der Duke University, später an der University of Texas, an der Southern Illinois University und zwei Privatkrankenhäusern in Illinois.

Seine Karriere startete vielversprechend. Als Student bekam er Stipendien, doch schon früh begleitete ihn der Verdacht, den eigenen Lebenslauf aufzumotzen. So weckte 2010 ein Wikipedia-Eintrag über Desai Zweifel. "Wenn die Hälfte der Behauptungen in diesem Artikel wahr ist, ist er in der Tat ein außergewöhnlicher Mann", schrieb einer der vielen Websiteredakteure, die die Onlineenzyklopädie – oft ehrenamtlich – nach nicht belegten Fakten durchsuchen. Der Eintrag über den damals 31-jährigen Desai wurde zum Löschen markiert.

Unter der Schirmherrschaft von Surgisphere gründete Desai im Jahr 2010 das Fachblatt "Journal of Surgical Radiology". Nur drei Jahre später wurde das Blatt eingestellt. Er habe keine Zeit mehr, begründete Desai die Entscheidung.

In der Wissenschaftswelt fanden die Artikel nur wenig Beachtung. Laut Scimago, einer Art Bewertungsdienst für Zeitschriften, wurden die Beiträge nur 29 Mal in anderen Fachaufsätzen zitiert. Dabei war auf einer Firmenwebsite von Surgisphere die Rede von 50.000 Abonnenten und einer Million Seitenaufrufen im Monat. Beeindruckende Zahlen, die jedoch mittlerweile nicht mehr online aufrufbar sind.

Das Fachblatt blieb längst nicht Desais einziges Projekt. Er warb für ein Produkt, das die Hirnfunktion und die Kreativität ankurbeln sollte, aber es nie zur Marktreife brachte. In einem Science-Fiction-Blog fabulierte er über den sparsamsten Weg, eine sinnvolle Präsenz der Menschheit im Weltraum aufzubauen. Seine Datenbank könnte gar klinische Studien überflüssig machen, schwärmte er.

Nur wenige Wegbegleiter wollen sich zu dem vermeintlichen Überflieger noch äußern. Die spärlichen Angaben zeichnen zwei Versionen des Gefäßchirurgen: Er sei ein begabter junger Mediziner, sagen die einen. Doch ein Forscher, der vor einigen Jahren mit Desai zusammengearbeitet hatte, aber namentlich nicht genannt werden will, sagte dem Fachblatt "Science": Jeder, der Desai kenne, würde sagen, man habe kein gutes Gefühl bei ihm. Die meisten hätten sich lieber von ihm ferngehalten.

"Einfach darauf hereingefallen"

Im Nachhinein lässt sich das leicht sagen. Jedenfalls muss es Desai geschafft haben, in die richtigen Kreise zu kommen, um in einer so renommierten Fachzeitschrift wie "Lancet" publizieren zu können. Den Weg dorthin bahnte offenbar ein weiterer Mitautor der Studie und angeheirateter Verwandter von Desai, Amit Patel.

Er soll Desai dem renommierten Mediziner Mandeep Mehra vorgestellt haben. Mehra arbeitet am Brigham and Women's Hospital in Boston, das zur Harvard Medical School gehört. Er scheint der Wissenschaftler mit den entscheidenden Kontakten gewesen zu sein – einer, der die Publikation in einem Fachblatt beschleunigen kann, gerade wenn es um Corona geht. Er wird auch als Hauptautor der Studie genannt. Patel und Mehra kannten sich aus Forschungskreisen, teilte das Brigham and Women's Hospital mit.

"Ich denke, er ist einfach darauf hereingefallen – vielleicht etwas naiv", sagt ein ehemaliger Kollege von Mehra, Daniel Goldstein vom Albert Einstein College of Medicine in New York ,dem Fachblatt "Science". Angesichts der Datenmenge sei es auch nur schwer zu glauben, dass jemand so etwas fabrizieren kann.

Desai hatte die Vorwürfe gegen Surgisphere mehrfach zurückgewiesen, äußerte sich in den vergangenen Tagen jedoch nicht mehr. Die übrigen Autoren der "Lancet"-Studie haben offenbar mit Desai gebrochen. Unter der gemeinsamen Erklärung zum Rückzug der Studie fehlt seine Unterschrift. Selbst sein Verwandter Patel distanzierte sich öffentlich von ihm und teilte über Twitter mit, nichts darüber zu wissen, was bei Surgisphere vor sich ging.

Mehra hat die Zusammenarbeit mit Surgisphere öffentlich bedauert. Er sei davon ausgegangen, dass die Firma im Besitz der Daten sei. Doch auch er könne nicht garantieren, dass die Primärdaten stimmen. "Ich habe kein Vertrauen mehr in die Herkunft und die Richtigkeit der Daten oder in die Ergebnisse, zu denen sie geführt haben", sagte Mehra.

Auch die anderen Autoren der "Lancet"-Studie verließen sich auf die Echtheit der Datenbank. Schließlich hatte schon ein anderes Fachblatt eine Studie auf Grundlage der Daten veröffentlicht. Einer der Co-Autoren, Frank Ruschitzka, hatte überhaupt keinen Kontakt zu Surgisphere, teilte dessen Arbeitgeber, das Universitätsspital Zürich, auf Anfrage des SPIEGEL mit. "Es gab für ihn keinen Grund, an der Erhebung der Daten zu zweifeln, da für die Studie dieselbe Datenquelle verwendet wurde, wie für eine andere Studie, die am 1. Mai 2020 im 'New England Journal of Medicine' publiziert worden ist", heißt es darin.

"Man sollte bei Gott die Daten kennen"

Die Enthüllungen gehen weit über die zwei zurückgezogenen Studien hinaus – sie stellen infrage, wie zuverlässig Studien in renommierten Fachblättern überhaupt sind und sein können, die eigentlich vor Veröffentlichung geprüft werden sollen.

Jerome Kassirer, einst langjähriger Chefredakteur beim "New England Journal of Medicine", nannte die Zusammensetzung des Forschungsteams gegenüber dem Fachblatt "Science" "völlig bizarr". Die Forscher hatten zuvor nie gemeinsam publiziert oder an denselben Instituten gearbeitet. Für die Fachzeitschriften hätte das eigentlich ein Alarmzeichen sein sollen. Auch das blinde Vertrauen der anderen Studienautoren sieht er kritisch. "Wenn man ein Wissenschaftler ist und sich an einem Projekt beteiligt, sollte man bei Gott die Daten kennen."

Tatsächlich hätten schon früher Zweifel an der Echtheit der Datenbank aufkommen können. So hatte Surgisphere auf Grundlage der Daten ein Tool entwickelt, das den wahrscheinlichen Verlauf einer Covid-19-Erkrankung voraussagen sollte, um gerade in Entwicklungsländern Ressourcen zu sparen. Die Idee: Je besser Ärzte wissen, welcher Patient dringend Sauerstoff braucht und welcher auch ohne gute Überlebenschancen hat, umso mehr Menschen können gerettet werden.

Laut Recherchen des Magazins "The Scientist" hatte ein Forscherteam, das eine Überblicksstudie über genau solche Prognose-Tools veröffentlicht hat, die Anwendung von Surgisphere bewusst ausgelassen, weil sie Zweifel an der Echtheit der Daten hatten.

"Für unsere Patienten kann es kein gutes Ende geben"

Der Skandal trifft die Nichtregierungsorganisation African Federation for Emergency Medicine (AFEM) besonders hart. Sie hatte die Entwicklung des Prognose-Tools von Surgisphere unterstützt, um es Krankenhäusern in Afrika zur Verfügung zu stellen. Nun mussten sie die Anwendung zurückziehen. Es werde Monate dauern, ein ähnliches Tool zu entwickeln. "Egal was bei der Untersuchung gegen Surgisphere rauskommt", sagte Lee Wallis von AFEM dem Magazin "The Scientist", "für unsere Patienten kann es in diesem Kontext kein gutes Ergebnis geben."

Der Surgisphere-Skandal zeigt, unter welchem Druck die Forschung in der Coronakrise steht. In Zeiten der Pandemie sind alle Wissenschaftler bestrebt, Ergebnisse schnell zu teilen. Fatal, wenn daraus übereilte Entscheidungen getroffen werden.

So hatten weitere Studienergebnisse auf Basis der fragwürdigen Surgisphere-Datenbank dazu beigetragen, dass der Wirkstoff Ivermectin, der eigentlich zur Behandlung von Wurmbefall zugelassen ist, in Südamerika auch Covid-19-Patienten verabreicht wurde. Dabei war eine erste Version der Studie nicht einmal bei einem renommierten Fachblatt erschienen, sondern auf einem sogenannten Preprint-Server, auf dem quasi jeder Studienergebnisse hochladen kann.

Die Autoren der "Lancet"-Studie haben öffentlich um Entschuldigung gebeten. "Wir alle haben uns im guten Glauben dieser Zusammenarbeit angeschlossen", schreiben sie in einer gemeinsamen Stellungnahme, "um in einer Zeit großer Not während der Covid-19-Pandemie einen Beitrag zu leisten." Surgisphere-Geschäftsführer Desai hat nicht unterschrieben.

Mitarbeit: Hilmar Schmundt

Icon: Der Spiegel

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