Corona-Maßnahmen und Debatte über Mini-Shutdown: “Wir haben jetzt zwei Möglichkeiten”

Nächster Schritt Mini-Shutdown? (Bild vom Mai 2020)
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Tom Weller / dpa
Es scheint fast so, als könnte dem Virus gerade nichts etwas anhaben: Die Zahl der Neuinfektionen in Deutschland geht unablässig nach oben, die Ampel-Landkarte verfärbt sich zunehmend rot bis dunkelrot, und die Reproduktionszahl, kurz R-Wert, liegt seit Anfang Oktober klar über eins. Jeder Infizierte steckt also deutlich mehr als eine Person an, das Virus breitet sich in der Bevölkerung exponentiell aus (siehe Grafiken unten).
"Derzeit verdoppelt sich die Zahl der täglichen Neuinfektionen ungefähr alle sieben bis zehn Tage", sagte Viola Priesemann vom Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation in Göttingen in einer Gesprächsrunde mit Journalisten. "Wenn sich der Trend fortsetzt, haben wir in drei bis vier Wochen 100.000 Neuinfektionen am Tag."
Am Mittwoch wollen sich die Ministerpräsidenten erneut virtuell zu einer Runde im Kanzleramt zusammenschalten, um darüber zu beraten, wie der Lage beizukommen ist. Die entscheidende Frage dabei ist, was die steigenden Zahlen für die Gesellschaft bedeuten und was daraus folgt.
Priorität: Risikogruppen schützen
Gérard Krause, Leiter der Abteilung Epidemiologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig, kommt in der Debatte derzeit der direkte Schutz von Risikogruppen zu kurz. Es sei eine Herausforderung, diese Menschen besonders effektiv vor einer Ansteckung zu bewahren, ohne sie von der gesellschaftlichen Teilhabe auszuschließen, sagte er dem SPIEGEL. Gerade deswegen verdiene das Thema mehr Aufmerksamkeit.
Man müsse zum Beispiel darauf hinwirken, dass stationäre und mobile Pflegedienste mit ausreichend FFP2-Schutzmasken ausgestattet würden. Auch im Fall begrenzter Kapazitäten beim Kontaktpersonenmanagement oder beim Einsatz von Schnelltests müssten diese auf die Bereiche fokussiert werden, bei denen das Risiko für schwere Krankheitsverläufe besonders hoch sei.
"Wir müssen die Ausbreitung des Virus in der Gesamtbevölkerung begrenzen und zugleich den direkten Schutz bei den Menschen stärken, die besonders häufig einen schweren Krankheitsverlauf haben", sagte Krause. Hygieneregeln, Abstand halten, Maske tragen und Kontakte reduzieren sei weiterhin unerlässlich.
In der Debatte geht es um einen zweiten Shutdown
Die Debatte der vergangenen Tage fokussierte sich allein aufs Ausbremsen des Virus. SPD-Politiker Karl Lauterbach brachte am Wochenende einen erneuten Shutdown ins Spiel. Am Mittwoch wurde bekannt, dass der Bund plant, das öffentliche Leben in den kommenden Wochen herunterzufahren. Hintergrund der Debatte ist, dass die Ausbreitung des Virus in zahlreichen Regionen zunehmend außer Kontrolle gerät oder bereits geraten ist.
"Unsere Modelle zeigen, dass es im Sommer relativ wenige unentdeckte Infektionen gab", so Expertin Priesemann. Sie untersucht den Verlauf der Pandemie in mathematischen Simulationen. Die Gesundheitsämter seien in den warmen Monaten in der Lage gewesen, Infektionsketten schnell zu finden und Kontakte in Quarantäne zu schicken.
Das hält sie für einen wichtigen Baustein beim Schutz der Risikogruppen. Dadurch sei es weitgehend gelungen, das Virus aus den Alten- und Pflegeheimen rauszuhalten und die Sterberate zu drücken.
Die Kontaktverfolgung auf bestimmte Bereiche zu begrenzen, sei keine Lösung: "Wir müssen sowohl Einzelfälle als auch Superspreader-Ereignisse nachverfolgen und Infektionsketten durchbrechen. Das lässt sich nicht trennen, denn aus jedem unentdeckten Einzellfall wird potenziell ein größeres Cluster." Es seien die unbemerkt Infizierten, die die Pandemie nun antrieben.
"Wir haben jetzt zwei Möglichkeiten", erklärte Priesemann. "Entweder nähern wir uns der Belastungsgrenze der Krankenhäuser an und hangeln uns dann mit dauerhaften Einschränkungen des öffentlichen Lebens an dieser entlang, oder wir drücken die Zahlen einmal durch kurze, starke Maßnahmen so sehr in den Keller, dass wir Ausbrüche wieder kontrollieren können."
Kurzfristige, strenge Maßnahmen gegen den Flächenbrand
Die erste Variante habe zur Folge, dass sich die Menschen dauerhaft deutlich stärker einschränken müssten als jetzt. Jeder müsse seine Kontakte noch einmal um 50 Prozent reduzieren, um auf eine stabile Anzahl Neuinfektionen und damit auf einen R-Wert von ungefähr eins zu kommen. Dennoch würde es mehr Todesfälle geben, weil es schwerer sei, die Risikogruppen zu schützen.
Priesemann schätzt, dass die Kapazitäten der Krankenhäuser irgendwo zwischen 20.000 und 100.000 Neuinfektionen pro Tag in Deutschland liegen. Der Wert schwanke stark, je nach Altersstruktur der Infizierten.
Die zweite Variante würde einen Shutdown bedeuten. Lauterbach warb am Dienstag explizit für einen sogenannten "Wellenbrecher-Shutdown". Das Prinzip ist auch als Mini-Shutdown oder Circuit-Breaker bekannt.
Circuit-Breaker ist eigentlich ein Begriff aus der Elektronik und beschreibt eine Sicherung, die einen Stromkreis bei Überlastung unterbricht. Auf die Corona-Pandemie übertragen bedeutet das, durch zeitlich begrenzte, strenge Maßnahmen einen immer größeren Flächenbrand zu verhindern.
Damit ließe sich Zeit kaufen, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen. Das exponentielle Wachstum würde für eine Weile unterbrochen und die Zunahme der Infektionen verzögert werden. Gleichzeitig wäre die Hoffnung, dass die klare, zeitliche Begrenzung den wirtschaftlichen Schaden im Vergleich zu einem breiten Shutdown wie im Frühjahr geringer halten würde.
"Die Situation ist ernst"
Christian Drosten, Virologe an der Charité in Berlin, hatte das Konzept kürzlich auf Twitter ins Gespräch gebracht. Sein Beitrag basiert auf einem von britischen Forschern vorab im Netz veröffentlichten Beitrag. Sie haben modelliert, welche Auswirkungen Mini-Shutdowns haben könnten.
Ihr Fazit: Je früher die Maßnahmen ergriffen werden, umso stärker wirken sie sich auf das Ausbreitungsgeschehen aus. Bei bereits stark steigenden Infektionszahlen könnten sie "die dringend notwendige Unterbrechung" herbeiführen, damit andere Maßnahmen – wie etwa die Kontaktverfolgung – wieder greifen können.
Die Deutsche Akademie der Wissenschaften Leopoldina, die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die Fraunhofer-Gesellschaft, die Helmholtz-Gemeinschaft, die Leibniz-Gemeinschaft und die Max-Planck-Gesellschaft haben am Dienstag eine gemeinsame Stellungnahme veröffentlicht, die ein solches Vorgehen nahelegt: "Die Situation ist ernst" ist der Titel. Das Papier fasst Erkenntnisse aus Modellrechnungen, auch von Priesemann, zusammen.
Auf eine schnelle Entscheidung kommt es an
Um einen ähnlichen Verlauf der Pandemie wie in vielen Nachbarstaaten noch verhindern zu können, müssten jetzt klare Entscheidungen getroffen und schnell umgesetzt werden, heißt es darin. Je früher und konsequenter das geschehe, desto kürzer könnten die Beschränkungen sein.
"Im Frühjahr haben wir gesehen, dass sich die Zahl der Neuinfektionen jede Woche ungefähr halbiert hat, sobald ein Shutdown Wirkung zeigte", sagte Priesemann. Anders gesagt: "Jedes Mal, wenn sich die Zahl der Neuinfektionen verdoppelt, braucht es rund eine zusätzliche Woche starke Einschränkungen, um sie wieder zu halbieren."
Ein Schaubild aus der Stellungnahme der wissenschaftlichen Fachgesellschaften (oben) zeigt, wie sich die Infektionszahlen voraussichtlich verändern, abhängig vom Zeitpunkt, zu dem Kontakte auf ein Viertel, also um 75 Prozent, reduziert werden.
Welche Maßnahmen einen wie großen Effekt bringen, wissen Forscher allerdings noch nicht. "Jeder nicht stattgefundene Kontakt hat einen Effekt, egal ob sich die Menschen nicht in der Schule, nicht in der Uni, nicht im Büro oder nicht im Restaurant begegnen", erklärte Priesemann. Wo Einschränkungen in welchem Ausmaß angemessen seien, müsse die Politik auch unter Berücksichtigung wirtschaftlicher und sozialer Aspekte abwägen. Derzeit gibt es die Tendenz, die Schulen offenzuhalten, aber etwa Bars zu schließen.
Regional schon angewendet
Im Kleinen gibt es Mini-Shutdowns in Deutschland bereits. Nach dem lokalen Corona-Ausbruch im Berchtesgadener Land gelten dort seit dem 20. Oktober und bis zum 2. November harte Corona-Regeln: Die Bürgerinnen und Bürger dürfen ihre Wohnungen nur mit triftigem Grund verlassen, Feriengäste mussten abreisen. Restaurants dürfen nur noch Essen zum Mitnehmen anbieten, Bäder und Seilbahnen sind geschlossen, Schüler und Kindergartenkinder sollen erst nach den Herbstferien zurückkehren.
Wie gut die Maßnahmen greifen, wird sich erst nach einiger Zeit zeigen. Weil es mehrere Tage dauert, bis nach einer Infektion Symptome auftreten, steigen die Zahlen zu Beginn eines Mini-Shutdowns zunächst weiter. "Es dauert ein bis drei Wochen, bis sich die Folgen einzelner Maßnahmen in der Statistik zeigen", erklärte Priesemann.
Unklar ist auch, wie nach einem Mini-Shutdown gewährleistet werden kann, dass die Situation nicht erneut außer Kontrolle gerät, vor allem dann, wenn das Virus in anderen Ländern Europas weiter großflächig grassiert. Epidemiologe Krause zweifelt, dass es möglich und zielführend ist, Deutschland wie eine Insel abzuschotten. "Das Virus wird immer wieder zurückkommen." Nach dem Shutdown wäre dann vor dem Shutdown.
Priesemann und die Forschungsgemeinschaften argumentieren dagegen auf Basis von Modellrechnungen, dass aus dem Ausland eingetragene Fälle bis zu einem gewissen Grad mithilfe der Kontaktverfolgung eingegrenzt werden könnten.
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