Reisners Blick auf die Front: “Die Ukraine macht Jagd auf russische Drohnen-Operateure”
Politik

Ukrainischer Soldat mit einer Glasfaser-Drohne. Gut zu erkennen: die unterhalb der Drohne fixierte Spule für das Glasfaser-Kabel.
Der Einstieg der USA in den Krieg zwischen Israel und Iran hat für die Ukraine jetzt schon Folgen, erklärt Markus Reisner. Den für Kiew falle mehr weg als nur öffentliche Aufmerksamkeit. Derweil stehen die Ukraine sowohl entlang der Fronten als auch bei der Luftverteidigung zunehmend unter Druck. So sehr, dass General Syrsky die Verteidigungsstrategie geändert habe. Vor allem eine technische Neuerung Russlands mache den Ukrainern zu schaffen, erklärt der Oberst des österreichischen Heeres.
ntv.de: Herr Reisner, die Ukraine fand sich am Wochenende ganz am Rand der globalen Aufmerksamkeit wieder. Die USA haben den Iran angegriffen. Welche Folgen hat das für den ukrainischen Abwehrkrieg gegen Russland?
Markus Reisner: Die Aufmerksamkeit der USA wendet sich zunehmend neuen Konfliktsituationen zu. Momentan ist das die Unterstützung Israels im Konflikt mit dem Iran. Das bedeutet für die Ukraine neben der geringeren öffentlichen Wahrnehmung im schlimmsten Fall auch einen Wegfall von Ressourcen. Das betrifft insbesondere die weitreichenden Angriffe der Russen vor allem mit Drohnen und Marschflugkörpern gegen die kritische Infrastruktur der Ukraine. Die USA wollen jetzt 20.000 Vampire-Raketen, die für die Ukraine vorgesehen waren, zum Schutz der eigenen Streitkräfte einsetzen, die im Nahen Osten stationiert sind.

Markus Reisner ist Historiker und Rechtswissenschaftler, Oberst des Generalstabs im Österreichischen Bundesheer und Leiter des Institutes für Offiziersgrundausbildung an der Theresianischen Militärakademie. Wissenschaftlich arbeitet er u.a. zum Einsatz von Drohnen in der modernen Kriegsführung. Jeden Montag bewertet er für ntv.de die Lage an der Ukraine-Front.
(Foto: privat)
Was ist das für ein Waffensystem?
Das ist ein Fliegerabwehrsystem für den Nahbereich mit einer Reichweite von bis zu 5 Kilometern. Damit eignet sich das System insbesondere zur Abwehr von Shahed-Drohnen, die Russland ja in großer Zahl gegen die Ukraine einsetzt, auch gegen die ukrainische zivile Infrastruktur. Nach dem Angriff auf die iranischen Atomanlagen wollen die Amerikaner nun ihre eigenen Soldaten im Nahen Osten verstärkt vor Drohnenangriffen schützen, weil der Iran oder seine Verbündeten diese mit Drohnen angreifen könnten.
Nach diesem Muster könnten auch andere Gerätschaften für die Ukraine wegfallen?
Ja, die Vampire-Raketen sind nur ein konkretes Beispiel für die Folgen für die Ukraine, sollten die USA als wichtigster Verbündeter der Ukraine immer stärker am Krieg Israels gegen Iran beteiligt sein. Dann schwindet die Aufmerksamkeit für die Ukraine und die Ressourcen werden neu verteilt. Für die Ukraine hängt viel davon ab, wie der Konflikt mit Iran weitergeht.

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Andersherum gilt Iran als wichtiger Verbündeter Russlands. Muss Moskau um die iranische Unterstützung beim Bau von Angriffsdrohnen fürchten, wenn das Land auf seinen eigenen Krieg fokussiert ist?
In der frühen Phase des Krieges haben die Iraner den Russen technologische Unterstützung geleistet. Mittlerweile sind die Russen in der Lage, die iranischen Drohnen vom Typ Shahed-136 selbst zu bauen. Es wird angenommen, dass die Russen mittlerweile bis zu 300 Stück pro Tag fertigen. Die Luftangriffe auf die Ukraine werden also in Häufigkeit und Umfang zunehmen. 500 bis 800 abgefeuerte Drohnen pro Tag gelten als möglich, nachdem es im Juni ja schon einmal knapp 500 Drohnen waren, die Russland auf die Ukraine abgefeuert hat.
Das heißt, der Kreml kann entspannt auf den Konflikt um Irans Atomprogramm blicken?
Russlands Abhängigkeit von technologischer Unterstützung durch den Iran ist mittlerweile gering. Strategisch wird Russlands Lage sogar begünstigt, sollte der Iran die Öltransporte durch die Straße von Hormus stören oder blockieren. Je weiter der Ölpreis steigt, desto mehr Geld spült das in Putins Kriegskasse.
Der ukrainische Geheimdienst hat am Wochenende Erkenntnisse öffentlich gemacht, wonach Russland über 1950 strategische Raketen verfügt und derzeit jeden Monat 195 weitere produziert. Wie sind diese Zahlen einzuordnen?
Das ist deutlich mehr als bisher bekannte Schätzungen, die von einem Potenzial 1000 bis 1150 Marschflugkörpern und Raketen ausgingen. Damit kann sich Russland auf ein solides Arsenal stützen. Für die Ukraine bedeuten Bevorratung und Produktionszahlen der russischen Raketen, dass der Bedarf an Luftabwehrsystemen nicht nur im Nah- und Mittelbereich hoch ist, wo es um die Drohnenabwehr geht, sondern auch im Mittel- und Fernbereich. Dabei geht es insbesondere um das Raketenabwehrsystem Patriot, worauf auch Präsident Wolodymyr Selenskyj in den vergangenen Wochen ja immer wieder hingewiesen hat.

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Stehen Russland tatsächlich alle Raketen im Arsenal für den Krieg gegen die Ukraine zur Verfügung? Muss der Kreml nicht auch eine gewisse Zahl zurückhalten für den Fall einer Auseinandersetzung mit Nato-Ländern zum Beispiel?
Das stimmt. Das ist der sogenannte Sperrbestand, der eine gewisse Zahl umfassen muss.
Hinzukommt, dass die Ukraine Anfang Juni mehrere der relativ wenigen strategischen Bomber zerstört oder beschädigt hat, die solche Raketen transportieren können. Ist ein Effekt dieser viel beachteten Militäroperation zu beobachten?
Messbare Veränderungen, und die sind ja entscheidend, sind bisher nicht zu beobachten. Die strategischen Luftangriffe auf die Ukraine haben nicht nachgelassen. Am Wochenende hat Russland zusätzlich zu zahlreichen Drohnen wieder Raketen und Marschflugkörper gegen die Ukraine eingesetzt. Die verbliebenen strategischen Bomber müssen nun häufiger verwendet werden, weil andere nicht mehr verfügbar sind. Bislang schafft es Russland, das Momentum aufrechtzuerhalten in der Form, dass es ein bis zwei Mal im Monat strategische Luftangriffe durchführt.
Gehen wir nach der strategischen zur operativen Ebene. Was haben Sie in der vergangenen Woche an der Front beobachtet?
Die Russen greifen weiter entlang der ganzen Frontlinie an – im Nordabschnitt von Sumy bis Charkiw über den Mittelabschnitt, also Kupjanks bis hinunter nach Pokrowsk, und im Südabschnitt bei Saporischschja. Im Raum Sumy versucht Russland weiter, eine Pufferzone auf ukrainischem Territorium zu schaffen. Zugleich haben die Ukrainer in der Region erfolgreiche Gegenangriffe geführt und Andrijewka zurückerobert. Ein Vormarsch der Russen im Nordabschnitt ist nicht zu beobachten.
Und weiter südlich?
Die Situation im Mittelabschnitt bei Pokrowsk ist eine ganz andere. Die Angriffe der Russen fassen dort immer mehr Raum. Schätzungen zufolge können die Russen dort mehrere Quadratkilometer pro Tag in Besitz nehmen. Vor diesem Hintergrund ist auch die Aussage von General Syrski bemerkenswert, der gesagt hat, dass statische Verteidigung nichts nutze. Am Ende des Tages müssten sich die ukrainischen Streitkräfte dennoch zurückziehen. Er versucht deshalb jetzt, eine mobile Verteidigung zu implementieren. Wo notwendig, werden Gebiete hergegeben, um andernorts Gegenstöße zur Rückeroberung von Gelände zu starten.

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Worauf geht diese Entscheidung zurück?
Das ist zurückzuführen auf den Umstand, dass die Ukraine Probleme hat, genügend Kräfte aufzubringen, vor allem Reserven aufzubringen, um gegen die russischen Vorstöße vorgehen zu können. Zudem haben die Russen im Mittelabschnitt die am besten ausgebauten Stellungen, die zweite und dritte Verteidigungslinie, in vielen Gegenden schon durchbrochen und hinter sich gelassen. Private ukrainische Unternehmen und Pioniere sollen nun neue Stellungssysteme errichten, aber die Herausforderung ist, dass diese auf die Einsatzführung abgestimmt funktionieren müssen.
Wo ist das Problem?
Die Russen haben – da kommen wir jetzt von der operativen auf die taktische Ebene – einen Vorteil durch den Einsatz Glasfaser-gesteuerter Drohnen. Die bereiten den Ukrainern große Probleme, weil Störsender nicht bei einer direkten Kabelverbindung zwischen Drohne und Operateur wirken. Aufgrund des quasi störungsfreien Steuerns ist es möglich, die Drohne durch die kleinste Lücke direkt in eine Stellung hineinzusteuern. Die Russen behaupten, dass 65 Prozent der ukrainischen Verluste durch diese Drohnen passieren, und zwar im Rahmen von Rotationen. Ein Soldat, der mehrere Tage gut getarnt in seiner Stellung war, muss irgendwann einmal zurück oder er muss ausgewechselt werden aufgrund von Verwundung oder Ähnlichem. Genau das ist der gefährliche Moment: Die Drohnen erkennen diese Bewegungen und greifen an. Das heißt, die Masse der ukrainischen Soldaten wird nach russischer Darstellung auf dem Weg von der Front weg und zur Front hin getötet – nicht an der Front selbst.

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Eigentlich war die Ukraine lange Zeit effektiv mit ihren Drohnen …
Die ukrainischen First Person View-Drohnen werden durch die russischen Gegenmaßnahmen immer wirkungsloser. Da hilft auch der zahlenmäßige Vorteil der Ukrainer wenig. Die Glasfaser-Drohnen sind von hoher Qualität und haben eine Reichweite von bis zu 40 Kilometern. Die Wickelmaschinen für den Glasfaserdraht werden in China eigens für Russland produziert.
Wie reagiert die Ukraine auf diese Entwicklung?
Es gibt einen sehr bekannten Drohnenoperateur, der auch einen großen Teil der ukrainischen Drohneneinheiten unter seinem Kommando hat. Das ist ein Ukrainer mit dem Kampfnamen Magyar, übersetzt: Ungar. Der hat ein Punktesystem vergeben, nach dem die Erfolge der einzelnen Drohnenoperateure bewertet werden. Am meisten Punkte gibt es, wenn es den ukrainischen Drohnenoperatoren gelingt, russische Drohnen-Operateure zu neutralisieren. Die Ukrainer machen jetzt Jagd auf die russischen Drohnen-Operateure.
Mit Markus Reisner sprach Sebastian Huld
Quelle: ntv.de