Ist das realistisch?: Expertin: Gletscher können neu entstehen
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Blick auf die Zugspitze mit einer Höhe von 2962 Metern.
Es ist eine bemerkenswerte Aussage und sie stammt nicht von irgendwem, sondern von Österreichs Wissenschaftlerin des Jahres 2023, Andrea Fischer: Die Gletscher können wieder kommen, sagt die Forscherin von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften im Interview, das wir mit ihr beim 1. Alpenklimagipfel auf der Zugspitze geführt haben. Nur müssen wir dafür einige Bedingungen erfüllen.
ntv.de: Sie sind eben noch trotz des schlechten Wetters hoch auf den Gipfel der Zugspitze gestiegen. Das sagt mir, dass Sie die Berge wirklich lieben.
Fischer: Ja, ich bin über das Bergsteigen zu den Gletschern gekommen. Ich bin nach wie vor jemand, der lieber draußen als drinnen ist und lieber oben als unten.

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Sie beobachten seit vielen Jahren die Entwicklung auf den Gletschern. Wir alle wissen, sie schmelzen. Was macht das mit Ihnen?
Ich bin begeisterter Forscher und für uns in der Wissenschaft ist es ja das Tolle, neue Sachen zu erforschen. Von daher überwiegt bei mir die Spannung. Was passiert als nächstes, wie müssen wir die Modelle verbessern? Wie müssen wir die Messungen gestalten, damit wir die Prozesse mitverfolgen können? Also diese Chance, etwas völlig Neues zu entdecken und auch zukünftigen Generationen helfen zu können, damit umzugehen. Als Forscherin ist mir jetzt sehr bewusst, dass die Gletscher derzeit sehr schnell schmelzen, dass wir aber durchaus die Chance haben, dass sie wieder kommen. Es gab in den Alpen schon einmal eine Entgletscherung, wenn auch aus anderen Gründen. Die Wiedervergletscherung ist erst vor etwa 6.000 Jahren geschehen. Das heißt, bei allen Misslichkeiten des anthropogenen Klimawandels sehe ich durchaus die Chance, dass wir gegensteuern können und es uns gelingt, das Schicksal auf unsere Seite zu holen und die Gletscher wieder entstehen zu lassen.

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Das halten Sie wirklich für realistisch?
Es gibt zwei verschiedene Zugänge zu dem Thema. Als Bergsteiger werde ich immer scheitern, wenn ich denke, das geht schlecht aus, das kann ich nicht schaffen. Wenn, dann müssen wir positiv herangehen und uns sagen, dass es möglich ist. Dieser Glaube kann Berge versetzen. Und deswegen fokussiere ich mich darauf, die Herausforderungen zu meistern. Ich bin überzeugt davon, dass es möglich ist. Wir haben bessere Karten, weil wir wissen, wie wir mit dem von uns selbst verursachten Klimawandel umzugehen haben. Wir wissen, woher der Klimawandel kommt und was wir tun müssen, um die Lage zu verbessern. Vor vielen Jahrhunderten haben die Menschen einen natürlichen Klimawandel erleben müssen, die kleine Eiszeit. Die haben damals nicht gewusst, woher dieses Phänomen kommt. Wir haben ein politisches System, einen globalen Zusammenhalt, es gibt eine Einigkeit aller Staaten, dass wir dieses Thema angehen müssen. Wir müssen halt endlich in die Umsetzung gehen.

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Sie haben bei Ihrem Vortrag die Hebel angesprochen, die wir in der Hand haben. Welche sind das konkret?
Wir müssen die Treibhausgasemissionen reduzieren. Wir wissen, dass es durch eine Reduzierung der fossilen Treibstoffe geschehen muss. Wir brauchen einen ausgewählteren Konsum, mehr Nachhaltigkeit, eine selektivere und gezieltere Mobilität im täglichen Verkehr, privat wie im Güter- und Warenverkehr. Und eine bessere Energiebereitstellung. Mit diesen Faktoren sind wir schon so weit, dass der Zugspitzgletscher am Ende dieses Jahrhunderts wieder entstehen kann.
Wird das aus Ihren Projektionen deutlich?
Die nächsten 30 Jahre sind vorausbestimmt durch unsere bisherigen Emissionen. Ab dann wird das wirksam, was wir heute und jetzt tun. Das heißt, die Alpengletscher, besonders in den Ostalpen, werden in den nächsten 30 Jahren erst einmal sehr viel kleiner werden. Dann kann es uns gelingen, wieder auf ein Temperaturniveau von heute oder früher zurückzukommen, wenn wir jetzt die richtigen Maßnahmen setzen.

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Sie versuchen auch durch technische Maßnahmen den Gletscherschwund zu stoppen. Was ist von Gletscherpflastern, Planen überziehen und Beschneien zu halten?
Man muss den Kontext sehen. Das sind Maßnahmen, die in Skigebieten dazu dienen, Stützen, Infrastruktur und Lifte zu erhalten, damit man die nicht alle paar Jahre erneuern muss. Jetzt, wo die Gletscher in den Ostalpen großflächig zerfallen, kann es von Vorteil sein, auf diese Maßnahmen zu verzichten und die Skigebiete in den eisfreien Zustand zu transferieren. Diese Skigebiete sind in relativ großen Höhen und haben einen Vorteil, was das Schneeangebot betrifft. Es ist in diesen Höhen auch energieeffizienter, zu beschneien, weil es da eben viel kühler ist als in den Tallagen. Das „nach oben wandern“ der Skigebiete wird passieren und ist auch notwendig.

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Sie sagten, auf der Zugspitze ist in sieben Jahren schon kein Gletscher mehr – in den Ostalpen in 30 Jahren. Es kann also sein, dass wir eisfreie Alpen erleben, die irgendwann wieder neu vergletschern?
Genau, es gab in der Vergangenheit einige Eiszeit-Zwischeneiszeit-Zyklen, bei denen die Alpen zum glazialen Maximum vollständig unter Eis lagen. Glaziale Minima gingen sehr wahrscheinlich mit wenig Eis oder gar keinem einher. Es ist noch nicht sicher, ob wir mit dem anthropogenen Wandel diesen Eiszeit-Zwischeneiszeit-Zyklus blockiert haben. Es gibt im Klimasystem einige Kipppunkte, die wir noch nicht hundertprozentig kennen. Aber wenn wir die Zusammensetzung der Atmosphäre in eine günstigere Richtung drehen, kann es durchaus zu einer langsamen Abkühlung kommen, so dass zumindest kleinere Eisfelder wieder entstehen können. Wir wissen noch nicht, wie lange dieser Prozess dauern kann und wird. Das kann einige Jahrzehnte dauern. In den Ostalpen reden wir da von etwa 30 Jahren von der Flocke zum Eisblock. Der Schnee wird also an der Stelle, wo er fällt zu Eis und kann dann auch wieder zu Tal fließen.

Andrea Fischer ist von Gletschern begeistert.
Sollten die Alpen tatsächlich eisfrei werden – welche Konsequenzen hätte das bei Wasserversorgung, Landwirtschaft und Tourismus?
Wir haben vorübergehend mehr Sturzbewegungen, mehr Massenbewegungen, mehr Muren im Nahbereich der Gletscher. Das wird sehr wahrscheinlich weiterhin auf den Nahbereich der Gletscher beschränkt bleiben. Das heißt, Bergsteiger müssen auf diese Gefahr vorbereitet sein. Der Siedlungsbereich wird aber dadurch nicht gefährdet werden. Wir haben auch das große Glück, dass wir in den Alpen genug Niederschlag haben und genug Wasser aus dem Niederschlag ziehen können. Das Schöne ist, dass die Pflanzen sehr rasch nach oben rücken. Schon drei Jahre nach dem eisfrei werden haben wir schon über 20 verschiedenen Arten, auch Blütenpflanzen. Auch die Bäume kommen relativ rasch hoch. Das stabilisiert auch den Boden und reduziert die Murengefahr. So wird es zwar eine Umstellung geben, aber das sind Dinge, auf die wir uns vorbereiten können. Wir haben gute Strukturen, Management- und Gefahrenzonenpläne. Es gibt für jedes größere Fließgewässer Berechnungen, welche Höhe Schutzbebauungen haben müssen, damit der Siedlungsbereich und die Straßen sicher sind.
Mit Andrea Fischer sprach Oliver Scheel.
Quelle: ntv.de