“Auswahl-Wehrdienst” soll kommen: Wenn Pistorius selbst sagt: “Das wird nicht reichen”
Politik

Boris Pistorius beim "Tag der Bundeswehr" am vergangenen Wochenende
Verteidigungsminister Pistorius stellt sein neues Wehrdienst-Modell vor – und sagt gleich dazu, dass das "nicht reichen" wird. Dabei hat er das Maximum rausgeholt, aber nur für den Moment. Ein bisschen Pflicht gibt's auch, aber noch mehr Fragen.
Die Mehrheit der Deutschen hätte er für ein neues Modell der Wehrpflicht hinter sich – die eigene Partei nicht. Boris Pistorius musste einen Wehrdienst-Kompromiss finden zwischen dem, was er selbst aufgrund der Lage für erforderlich hält, und dem, was derzeit in der Ampelkoalition durchsetzbar ist. Angesichts dieser beachtlichen Zwickmühle kann man nur staunen, dass sich der Verteidigungsminister auch an diesem Mittwochnachmittag die fast verlässlich gute Laune nicht trüben lässt. In Berlin stellt er Pläne für einen neuen Wehrdienst vor, die hinter seinen eigenen Vorstellungen wohl deutlich zurückbleiben.
Und selbst für die wird er noch Werbung machen müssen, wenn man manche SPD-Stimme aus den vergangenen Tagen ernst nimmt. Für Pistorius ist es darum wichtig, zunächst klar zu machen, warum an der Notwendigkeit seines neuen Modells kein Zweifel bestehen kann: "Die Duma hat die Rüstungsausgaben massiv erhöht, Russland produziert Waffensysteme auf Vorrat, auf Kriegswirtschaft ist umgestellt und die verbalen Attacken gegenüber NATO-Ländern und anderen Nachbarstaaten nehmen sichtbar und hörbar zu", zählt der Minister auf und schließt mit einer klaren Hausnummer: 2029. Ab dann, davon müsse man laut Einschätzung aller internationaler Militärexperten ausgehen, werde Russland in der Lage sein, "militärisch einen NATO-Staat oder einen Nachbarstaat anzugreifen".

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Nun gilt es also, die Bundeswehr mit Blick auf 2029 "kriegstüchtig" zu machen, so hat Pistorius das Ziel oft genug formuliert, erst vergangene Woche wieder im Bundestag. Denn ohne eine Armee, die den Krieg notfalls führen und gewinnen könnte, lässt sich ein Gegner nicht glaubhaft abschrecken. So sieht es Pistorius, bloß was er bislang nicht sieht, ist diese Armee. Vor allem an der Reserve mangelt es. Über Jahrzehnte hat sich niemand darum geschert, dass Soldaten, die den Dienst quittieren, überhaupt in einer Akte erfasst werden. "Wir könnten im Verteidigungsfall nicht einmal mobilisieren", fasst Pistorius die Misere zusammen.
Die neue Regelung soll darum nicht den nötigen Aufwuchs bei der Berufsarmee voranbringen, sondern die Reserve auffüllen. Und zwar so: Zukünftig wird der Staat jedes Jahr den gesamten Jahrgang junger Deutscher anschreiben, die 18 werden. Etwa 700.000 Leute, Frauen wie Männer, mit der Bitte, einen Fragebogen auszufüllen – zur eigenen Fitness, über das eigene Verhältnis zur Bundeswehr, und ob man bereit wäre, sich freiwillig in ihren Dienst zu stellen. Frauen können den Fragebogen ausgefüllt zurücksenden, Männer müssen es tun. Wer aufgrund guter Eignung dann zur Musterung beordert wird, muss daran teilnehmen – bei Frauen bleibt auch das freiwillig.
Mit wenig Mathewissen zur ernüchternden Erkenntnis
An dieser Stelle ist aber auch schon wieder Schluss mit den Pflichten. Von den etwa 40.000 Männern, mit denen man für die Musterung plant, hofft Pistorius im ersten Jahr 5000 für die Bundeswehr zu gewinnen, und zwar per Auslese. "Es geht genau darum: Wir wollen die Besten und die Motiviertesten und bieten denen gleichzeitig etwas dafür an", sagt Pistorius und nennt das Format einen "Auswahl-Wehrdienst". Die Gemusterten, die das Angebot annehmen, müssten mindestens sechs Monate Grundwehrdienst ableisten. Lieber ein Jahr, am liebsten 23 Monate.

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So weit, so überschaubar. Das ist zunächst mal ein gutes Zeichen und im Regel-Wirrwarr der Bundeswehr nicht selbstverständlich. Bloß: Wie Pistorius selbst eingangs vorgerechnet hat, soll die Bundeswehr es schaffen, die Zahl der Reservisten von derzeit 60.000 auf 260.000 zu bringen. 100.000 davon sollen aus der Gruppe derer kommen, die ehemals gedient haben und ausgeschieden sind. Irgendwer muss die ganzen Adressen rauskriegen und jeder wird dann angeschrieben. Die anderen 100.000 will man jedoch über den neuen "Auswahl-Wehrdienst" generieren. Anfangs 5000 pro Jahr, bald schon 10.000, wenn die Pläne aufgehen.
Allerdings braucht man nicht viel Mathekenntnis, um auszurechnen, dass es mit 10.000 zusätzlichen Reservisten pro Jahr zehn Jahre dauern wird, bis die 100.000 erreicht sind. Wie aber lautete nochmal die Hausnummer vom Anfang? Die Jahreszahl, wann Putin wieder angriffsfähig wäre? Genau. 2029.
Er betrachte das Modell als Einstieg, als einen Weg, um jetzt beginnen zu können, antwortet Pistorius auf die Frage eines Journalisten, der mit Blick auf 100.000 neue Kräfte per Kopfrechnen bei 2036 gelandet ist. Genau wie alle anderen im Saal. Und dann sagt der Minister folgenden Satz: "Im Kern haben Sie recht. Es wird nicht reichen."
Kapazitäten sind "der limitierende Faktor"
Da stellt Pistorius nun also seit bereits einer halben Stunde bester Dinge ein neues Wehrdienst-Modell vor, dass laut seiner eigenen Auffassung nicht geeignet ist, um die bestehenden Anforderungen und Ziele zu erfüllen. Und da keilt er nicht gegen die zaudernde Ampel, gegen das eigene Partei-Präsidium, das ihm den Pflicht-Zahn vor kurzem so öffentlichkeitswirksam gezogen hat und am liebsten auch die "Kriegstüchtigkeit" überhaupt gar nicht mehr von ihm hören würde?
Das alles tut Pistorius nicht, denn nicht nur die eigene Regierungskoalition verweist ihn in seine Schranken, sondern ebenso tun es die Kapazitäten der Bundeswehr. "Ich würde gern 20.000 Wehrdienstleistende pro Jahr ausbilden, aber dafür sind die Kapazitäten nicht da", sagt er. Sie seien "der limitierende Faktor".
Und in der Tat ist das kein leeres Gerede, bestätigt Rafael Loss, Sicherheitsexperte beim European Council on Foreign Relation. So viele Kasernen wurden nach Ende des Kalten Krieges aufgegeben, Liegenschaften veräußert, die Infrastruktur für die Musterung komplett eingestampft. "Zur Aussetzung des Wehrdienstes 2011 gehörte eigentlich die Bedingung, dass in einem Verteidigungsfall die Strukturen reaktiviert werden könnten", sagt Loss. Nur darum gekümmert hat sich niemand.

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"Selbst mit einer ambitionierteren Herangehensweise und höher gesteckten Zielen könnte man nicht schneller voranschreiten als es Pistorius gerade tut", sagt Loss. Weil man all den Missstand bei der Infrastruktur, dem Personal, den Finanzen erst lösen muss, um vorwärtszukommen. "Wenn wir in den nächsten fünf Jahren jeweils 20 Meter gehen, hat das denselben Effekt, wie wenn wir jetzt beschließen, wir wollen in fünf Jahren 100 Meter gegangen sein."
Trotzdem Heiterkeit
Rührt daher die gute Laune des Boris Pistorius? Weil er weiß, am Ende könnte er jetzt, für den Moment, gar nicht mehr erreichen, als das wenige, das er nun auf den Weg bringt? Und womöglich auch, weil klar ist, dass die Realität Deutschland am Ende dann doch einholen wird. Wenn nämlich klar wird, dass allein die Erwartungen der NATO an den deutschen Beitrag zur Verteidigungsfähigkeit mit 203.000 Soldaten in der stehenden Truppe nicht zu leisten sein wird. Minimum capability requirements nennt die NATO ihre Erwartungen, "minimale Fähigkeitsforderungen". Um die zu erfüllen, so sieht es Experte Loss, braucht die Bundeswehr zukünftig etwa 270.000 aktive Soldatinnen und Soldaten -Minimum.
Da werden also noch ganz andere Bretter zu bohren sein in den kommenden Jahren, inklusive einer möglichen Wehrpflicht – auch für Frauen -, falls das jetzige Modell nicht sehr schnell sehr gute Effekte zeigt. Aber nun soll es erstmal anrollen, und Pistorius erwartet angesichts der Bedrohungslage durch Putins Russland kaum, dass junge Leute sich aus Angst dagegen entscheiden. Deutschland habe mit ihrer Wehrpflicht-Armee die Erfahrung gemacht, dass es nie zum Konflikt gekommen sei, "weil wir wirksam abschrecken konnten". Es gehe darum, alles dafür zu tun, dass Deutschland in der Abschreckung so glaubwürdig und fähig werde, "dass es gar nicht erst zu einem Konflikt kommt und alle gesund und heiter nach Hause gehen können". Eine Heiterkeit, die der Minister durch seine eigene unterstreicht.
Quelle: ntv.de