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Rassismus in den USA: “Zur DNA der Polizei gehört es, die schwarze Bevölkerung zu unterdrücken”

June 02
23:03 2020
Demonstranten in Long Beach im US-Bundesstaat Kalifornien: Die Menschen fühlen sich so verletzbar wie noch nie Icon: vergrößern

Demonstranten in Long Beach im US-Bundesstaat Kalifornien: Die Menschen fühlen sich so verletzbar wie noch nie

PATRICK T. FALLON/ REUTERS

Eine Woche nach dem Tod von George Floyd gleichen Teile vieler US-Metropolen Schlachtfeldern. Polizeistationen sind ausgebrannt, Innenstädte verwüstet. Es wurde gekämpft und geplündert. Die Polizei geht hart gegen Demonstrierende vor, Donald Trump droht mit der Armee.

Die US-amerikanische Juristin Derecka Purnell beschäftigt sich seit Jahren mit Gewalt von Polizisten in den USA, Betroffenen von Polizeigewalt bietet sie Rechtsbeistand an. Im Interview spricht sie darüber, was sich in diesen Protesten entlädt, wie Trump die Ausschreitungen weiter anheizt und warum Reformen bei der Polizei nicht ausreichen werden.

SPIEGEL: Frau Purnell, die Bilder, die wir in diesen Tagen aus amerikanischen Städten sehen, aus Minneapolis, New York oder St. Louis, sind Bilder wie aus einem Bürgerkrieg. Warum entfalten die Proteste nach George Floyds Tod so eine Wucht?

Purnell: Die Menschen können nicht fassen, dass der Rassismus nicht einmal jetzt eine Pause einlegt, wo das ganze Land lahm liegt. Dass die Polizei inmitten der Corona-Pandemie, in dieser schweren Krise des Landes, wieder einen schwarzen Bürger umbringt. Die "Black Lives Matter"- Bewegung hat in den vergangenen Jahren die USA dazu gebracht, über Rassismus zu sprechen. Und doch können wir wieder einem weißen Mann dabei zusehen, wie er einen schwarzen Bürger dieses Landes umbringt, indem er sein Knie in dessen Rücken presst.

SPIEGEL: In welcher Situation erwischte die Menschen die Nachricht von Floyds Tod?

Purnell: Die meisten haben dieses Video zu Hause gesehen, im Lockdown, sie haben es gesehen und waren allein mit ihren Gefühlen. Die nicht-weiße Bevölkerung hat die Reformversprechen vorheriger Präsidenten und Präsidentschaftskandidaten im Ohr. Sie haben die Schnauze voll. Sie sind dessen müde geworden. Sie glauben nicht mehr an das Versprechen ihres Landes, frei und gleich zu sein. Ich habe Verwandte, die jetzt auf die Straße gehen und laut sind, die vorher noch nie etwas gesagt haben.

Die Arbeitslosenrate liegt in den USA bei 30 bis 40 Prozent, sie ist auf einem Rekordhoch. Afroamerikaner sind besonders häufig betroffen vom Jobverlust, gleichzeitig sind sie es, die die Jobs erledigen in den Krankenhäusern und Pflegeheimen, dort, wo man dem Virus am schutzlosesten ausgesetzt ist. Es sterben ungleich mehr Afroamerikaner am Coronavirus. Diese Menschen auf den Straßen haben sich noch nie so verletzbar gefühlt wie in diesen Tagen. Da sind Menschen auf der Straße, die jetzt arbeitslos sind durch Corona, sie haben nichts zu verlieren – und sie haben jetzt die Zeit, zu rebellieren.

SPIEGEL: Die Zahl der Menschen, die durch Polizeigewalt in den USA sterben, bewegt sich seit Jahren auf dem gleichen Niveau: Rund tausend sind es jedes Jahr, meist trifft es die nicht-weiße Bevölkerung. Es gibt oft Videos, die die Gewalt dokumentieren. Warum ändert sich nichts?

"Reformen der Polizei werden das Töten nicht beenden"

Purnell: Polizeigewalt in den USA ist im System verankert. Sie reicht zurück bis in die Zeit der Sklaverei, die ganze amerikanische Geschichte fußt auf der Unterdrückung und Kontrolle der schwarzen Bevölkerung.

Als die Sklaven irgendwann aufbegehrten und in vielen amerikanischen Städten für ihre Rechte protestierten, wuchs die Angst in der weißen Bevölkerung. Sie fürchtete, ihren Besitz zu verlieren, und dass die Brutalität, mit der sie die schwarze Bevölkerung behandelte, nun sie selbst treffen könnte. Dass das Pendel in die andere Richtung ausschlägt. Was taten sie also? Sie erließen Gesetze, auf deren Grundlage weiße Männer in den Gegenden der Schwarzen patrouillierten, die sogenannten Slave Patrols – sie sind der Ursprung der heutigen Polizei.

Zur DNA der Polizei in den USA gehört es von Anfang an, die Macht der Weißen zu sichern und gleichzeitig die schwarze Bevölkerung zu kontrollieren und zu unterdrücken. Diese Mechanismen kann man nicht einfach ausschalten. Deshalb sind die Rufe nach Reformen in der Polizei verfehlt. Sie werden das Töten nicht beenden.

SPIEGEL: Was dann?

Purnell: Wir wissen, was nicht hilft: Body Cameras für Beamte haben nicht dazu beigetragen, Polizeigewalt zu reduzieren. Auch nicht, die Polizeistationen diverser zu machen, also mehr People of Color als Polizeibeamte anzustellen. Es hat nicht geholfen, spezielle Trainings gegen Rassismus anzubieten. Die Polizei kann Menschen nur festnehmen oder töten. Für das eigentliche Problem, die Ungleichheit zwischen Schwarz und Weiß, ist sie die falsche Anlaufstelle, denn sie ist eben dazu gegründet worden, diese Ungleichheit zu erhalten.

SPIEGEL: Sie beschäftigen sich seit Jahren mit Gewalt durch die Polizei in den USA. Was schlagen Sie stattdessen vor?

Purnell: In den USA wird massiv Geld in die Polizei gesteckt. Es gibt hier eine Million Polizeibeamte und 18.000 Strafverfolgungsbehörden. Dabei sollten wir weniger in Police Academies, in Ausrüstung und Waffen der Polizei investieren, sondern viel mehr in Gemeinden, in Schulen, soziale Projekte in den Städten, wenn wir das Töten beenden wollen. Wir müssen strukturelle Benachteiligung angehen, die Ungleichheit zwischen schwarz und weiß, Arbeitslosigkeit, Gesundheit, Armut, Zugang zu Bildung.

SPIEGEL: Sie sagen, der Kontakt zwischen der Polizei und der Zivilbevölkerung müsse so gering wie möglich gehalten werden. Warum?

Purnell: Weil die Polizei für viele Menschen hier Gefahr bedeutet: Wir kennen nur die Namen derjenigen, die aufgrund von Polizeigewalt sterben. Doch rassistische Gewalt ist viel grundlegender und alltäglicher. Jeden Tag werden Menschen von Polizisten verletzt oder sexuell belästigt. Ihnen wird in den seltensten Fällen ein Hashtag gewidmet. Sexuelle Übergriffe etwa zählen zu den häufigsten Beschwerden gegen Polizeibeamte in den USA.

Die Polizei kann in den seltensten Situationen, zu denen sie geschickt wird, das Problem lösen. Warum schicken wir Polizisten zu den Obdachlosen auf den Straßen, wenn eigentlich ein Sozialarbeiter nötig wäre, der die Lage dieser Menschen verbessern kann? Warum stationieren wir Polizisten an Brennpunktschulen? Wir sollten stattdessen Geld in disziplinäre Maßnahmen und soziale Beratung investieren, die Schülern wirklich helfen. Wir müssen Inventur machen: Wo brennt es in unserem Land? Und was ist unsere Antwort darauf?

SPIEGEL: Nun ist Präsident Trump nicht bekannt dafür, die Ungleichheiten im Land verringern zu wollen.

Purnell: Oh, Rassismus und Ungleichheit aufgrund der Hautfarbe in den USA sind viel älter als Donald Trump. Doch Trump schafft es sicherlich, den Rassismus, den Riss in den USA freizulegen und zu verschärfen. Es reicht der Satz, den er als Antwort auf die Proteste sagte: "When the looting starts, the shooting starts" – Wenn die Plünderungen losgehen, dann wird geschossen.

Letztlich kann die Sicherheit von People of Color jedoch kein Präsident verbessern, mag er nun Trump oder Obama oder Biden heißen. Die Veränderung kann nur von den Leuten kommen, die nun auf den Straßen sind. Die Menschen, die jetzt Tränengas in den Augen haben und inmitten einer Pandemie gegen Rassismus und Polizeigewalt aufbegehren.

SPIEGEL: Was kann dieser Protest leisten?

Purnell: Die Menschen begreifen, dass Polizeigewalt aus dem Stoff gemacht ist, der die USA heute ausmacht. Sie wissen: Würden sie aufhören, auf die Straßen zu gehen, käme das einem stillen Eingeständnis des Rassismus und der Gewalt gleich. Es wäre, als würden sie sich fügen. Deshalb ist es so wichtig, dass die Leute sich wehren, dass sie laut Nein sagen zu der Ungleichheit. Ich bin sehr stolz darauf, dass die Menschen sich wehren.

SPIEGEL: Welche Bedeutung hat die Tatsache, dass Derek Chauvin, jener Beamte, der George Floyd die Luft abdrückte, festgenommen und angeklagt wurde?

Purnell: Wissen Sie, ich bin Anwältin und ich weiß, dass eine Anklage noch lange keine Verurteilung bedeutet. Ich glaube auch nicht daran, dass die Verhaftung von Polizisten auch nur einen anderen Polizisten davon abhielte, zu töten. Ich war am Samstag bei einem Protest. Da war schon bekannt, dass Chauvin gefeuert wurde. Der Protest ist nicht abgeflaut. Die schiere Zahl an Menschen, die dort auf den Straßen war, hat mich umgehauen.

Icon: Der Spiegel

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