Die Furcht vor Corona ist größer als das tatsächliche Risiko

"Für wie groß halten Sie die Wahrscheinlichkeit, dass das neue Coronavirus bei Ihnen im Laufe der nächsten zwölf Monate eine lebensbedrohliche Erkrankung auslöst?" Diese Frage wurde in den vergangenen Monaten rund 5800 Teilnehmerinnen und Teilnehmern des sogenannten sozio-oekonomischen Panels gestellt, einer in Deutschland laufenden Langzeit-Studie. Als Antwort war eine Prozentangabe gewünscht.
Wer angesichts der Berichte über die Proteste gegen die Corona-Maßnahmen vermutet, dass die Befragten ihr persönliches Risiko als sehr gering bewerten, liegt falsch. Das Gegenteil ist er Fall: Das Ergebnis lässt darauf schließen, dass die Menschen insgesamt ihr persönliches Risiko überschätzen, aber durchaus individuelle Risikofaktoren wir etwa Vorerkrankungen bedenken.
Die Befragten gaben im Schnitt an, dass sie mit einer Wahrscheinlichkeit von rund 26 Prozent im kommenden Jahr lebensbedrohlich an Covid-19 erkranken, berichtet das Team um Ralph Hertwig vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. Ältere und Menschen mit Vorerkrankungen schätzen ihr Risiko im Schnitt höher ein als Jüngere und Menschen ohne Vorerkrankungen – was realistisch ist. Auch in anderen Bereichen sehen die Forschenden, dass die Befragten ihr Risiko entsprechend ihrer persönlichen Umstände einschätzten. So gaben beispielsweise Menschen in Ostdeutschland ein geringeres Risiko an – tatsächlich waren hier auch geringere Infektionszahlen zu verzeichnen, somit war auch das Ansteckungsrisiko geringer. Auch sahen Menschen, die in Mehrpersonenhaushalten lebten, bei sich ein etwas höheres Risiko als Alleinlebende.
Eine Ausnahme: Frauen schätzten die Wahrscheinlichkeit, dass sie lebensbedrohlich erkranken, höher ein als Männer. Bisher zeigen verschiedene Studien aber, dass im Falle einer Coronavirusinfektion Männer häufiger als Frauen schwer erkranken. Eine mögliche Erklärung sei, dass Frauen allgemein eine geringere Risikoneigung als Männer hätten, schreibt das Team um Hertwig. Soll heißen: Sie sind offensichtlich besorgter.
Nur rund 14 Prozent der Befragten sahen ihr Risiko bei Null. Rund 28 Prozent sahen ihr Risiko bei mehr als 50 Prozent.
Die Menschen wurden von Anfang April bis Anfang Juli mehrmals befragt. Dabei zeigte sich, dass die Befragten das Risiko zu Beginn noch höher einschätzten, nämlich im Schnitt bei knapp 30 Prozent. Dieser Wert sank Ende Juni auf 24 Prozent.
Was wäre realistisch?
Welche Angabe zur Wahrscheinlichkeit wäre realistisch? Das lässt sich natürlich nicht eindeutig beantworten. Die Forschergruppe macht folgende Rechnung auf, um einen Höchstwert zu finden: Würden durch ein Wiederaufflammen der Infektionen zu den rund 200.000 nachweislichen Infizierten in Deutschland noch einmal diese Anzahl an Infektionen kommen, so dass wir im Land bis zum kommenden Frühjahr 400.000 Fälle hätten und würden sich all diese Menschen tatsächlich als lebensbedrohlich erkrankt einschätzen, dann wären 0,6 Prozent der erwachsenen Bevölkerung betroffen – der Wert ist weit entfernt von 24 oder 30 Prozent.
Auch diese 0,6 Prozent sind natürlich nur eine Schätzung. Ob sich in Deutschland bis zum nächsten Frühjahr noch 200.000 Menschen mit dem Coronavirus infizieren oder ob es viel weniger oder viel mehr Fälle geben wird, kann zu diesem Zeitpunkt niemand beantworten – weil es unter anderem wesentlich davon abhängt, wie konsequent weiter gegen eine Verbreitung des Erregers gekämpft werden wird.
Warum überschätzen die Befragten ihr Risiko? Das Phänomen gebe es auch bei anderen relativ seltenen, aber schwerwiegenden Risiken wie Gefahr durch Terrorismus und auch tendenziell bei ganz neuen Risiken, schreibt die Gruppe. Allerdings falle bei Covid-19 auf, dass die Befragten offenbar vor diesem Hintergrund der Überschätzung wichtige Risikofaktoren in Betracht ziehen, wenn sie ihr persönliches Risiko einschätzen sollen.
Die Forscherinnen und Forscher warnen davor, diese Risiko-Überschätzung als "willkommenes Geschenk gutzuheißen", weil sie Menschen motiviere, sich an die Corona-Schutzmaßnahmen zu halten. Das Gegenteil könnte der Fall sein:Wenn Menschen den Eindruck gewinnen, dass ihre eigene Wahrnehmung sehr stark vom tatsächlichen Risiko abweicht, kann dies dazu führen, dass sie ihre Einstellung grundlegend ändern. In diesem Fall könnte es dazu führen, dass Risiken durch Covid-19 nicht mehr als bedeutsam wahrgenommen und Präventionsmaßnahmen gar als unnötig, invasiv und paternalistisch empfunden würden. Wichtig sei, die Menschen weiter gut zu informieren. Denn ohne Schutzmaßnahmen wäre das Risiko tatsächlich bedeutend höher.
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