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US-Wirtschaft stürzt ab, doch Tech-Branche boomt

July 31
11:12 2020
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Wie in den Dreißigerjahren: Hungernde vor einer kirchlichen Essensausgabe in Minneapolis

Foto: KEREM YUCEL/ AFP

Der Wirtschaftskollaps – historisch. Die Arbeitsmarktkrise – gigantisch. Und die Corona-Hilfen für Amerikaner in Not – fallen wohl Ende der Woche weg. Am Donnerstag jagte in den USA eine ökonomische Hiobsbotschaft die andere. Tröstende, ermutigende oder aufrüttelnde Worte kamen nicht aus Washington oder New York, sondern aus Atlanta.

Dort wurde John Lewis beigesetzt, der demokratische Kongressabgeordnete und Held der Bürgerrechtsbewegung, der vor zwei Wochen gestorben war. Bei der Trauerfeier sprachen Barack Obama, George W. Bush und Bill Clinton, die letzten drei US-Präsidenten. Die eindrucksvollste Rede aber kam von Lewis' Mentor, dem 91-jährigen Aktivisten Jim Lawson, ein Weggefährte von Martin Luther King.

"Wir werden nicht schweigen", donnerte Lawson in der Ebenezer Baptist Church, der alten Kirche Kings, "solange unsere Wirtschaft von einem Plantagen-Kapitalismus geprägt ist, der weiterhin Vorherrschaft und Kontrolle schafft statt Freiheit und Gleichheit."

Plantagen-Kapitalismus, das Wort hallt nach. Am Donnerstag zeigten gleich mehrere Wirtschaftsdaten, wie dramatisch die Coronakrise Amerikas Ungleichheit verschärft, wer am meisten darunter leidet – und wer davon profitiert.

Zu den Gewinnern gehören die Techgiganten Amazon, Apple, Google (Alphabet) und Facebook, wie sich am Abend zeigte, als sie ihre Bilanzen vorlegten. Tags zuvor hatten sich die Vorstandschefs Jeff Bezos, Tim Cook, Sundar Pichai und Mark Zuckerberg noch im Kongress Raffgier und Monopoltricks vorhalten lassen müssen. 24 Stunden später hatten sie schon wieder Anlass zur Freude – denn der Corona-Lockdown beflügelt ihre Branche.

  • Der Umsatz von Amazon, dem zweitgrößten US-Arbeitgeber, explodierte um 40 Prozent auf fast 89 Milliarden Dollar.

  • Auch Apple überraschte mit fast 60 Milliarden Dollar.

  • Facebook postete 18,7 Milliarden Dollar, fast zwei Milliarden mehr als im Frühjahr 2019.

  • Nur Google-Mutterkonzern Alphabet erlitt den ersten Umsatzrückgang seiner Geschichte, der allerdings auch nur schwach war: minus zwei Prozent auf 38,3 Milliarden Dollar.

Die Konzerne verdienten an Geräten, Apps, Onlinehandel und digitaler Werbung. Ihre Aktien schossen im nachbörslichen Handel hoch, was ihre Chefs auf dem Papier noch reicher machte. Bezos ist der reichste Mann der Welt, mit einem Vermögen von 114 Milliarden Dollar, Zuckerberg der fünftreichste (67 Milliarden Dollar). Alphabet-Boss Pichai ist mit zuletzt 280 Millionen Dollar der bestbezahlte CEO Amerikas. Und gerade wegen Corona dürfte dieser Trend weiter aufwärtsgehen: "Letztendlich glauben wir, dass diese großen Techunternehmen einen noch permanenteren Rückenwind haben", sagte Analyst Brent Thill dem "Wall Street Journal".

Demgegenüber stehen Millionen Verlierer, wie sich Stunden zuvor noch einmal gezeigt hatte.

  • Ungeachtet des Techbooms erlitt die US-Volkswirtschaft insgesamt einen historischen Absturz: Im zweiten Quartal schrumpfte Amerikas Bruttoinlandsprodukt aufs Jahr gerechnet um 32,9 Prozent – der stärkste Einbruch seit Beginn dieser Statistik 1947. Die Pandemie hat ein Drittel des Outputs vernichtet. "Jetzt wissen wir, wie tief das Loch ist, aus dem wir uns herausbuddeln müssen", schreibt die Ökonomin Aneta Markowska. "Es wird zwei Jahre dauern, bis wir die Werte von vor Covid-19 wieder erreichen."

  • Die fast zeitgleich veröffentlichten US-Arbeitslosenzahlen unterstrichen das. Fast 1,4 Millionen Amerikaner stellten vergangene Woche einen Erstantrag auf Arbeitslosenhilfe. Das war die 19. Woche in Folge mit mehr als einer Million solcher Erstanträge, ebenfalls ein Höchstwert. Am schwersten betroffen sind Schwarze und Latinos. "Wir stecken weiter in einer verzweifelten Lage", sagte die Ökonomin Diane Swonk der "New York Times". "Dies ist beispiellos."

  • Da zeitweise drei von vier Amerikanern unter Lockdown standen, brachen die Konsumausgaben ein, ein Motor der US-Konjunktur. Das Verbrauchervertrauen schwand. Jeder zweite US-Haushalt erlitt einen Einkommensverlust, in jedem zehnten gibt es nicht mehr genug zu essen.

Die Coronakrise hat die USA erst in eine humanitäre Katastrophe gerissen, mit inzwischen mehr als 150.000 Toten, und nun in eine ökonomische. Vergleichbar ist nur die Great Depression der Dreißigerjahre. Damals prägten lange Warteschlangen an den Suppenküchen das US-Straßenbild. Neun Jahrzehnte später sind diese Schlangen zurückgekehrt, samt Schlangen an den Corona-Teststellen – nur sitzen die Leute diesmal in ihren Autos.

Trotzdem laufen die staatlichen Corona-Finanzhilfen an diesem Freitag aus, ohne dass sich der US-Kongress bisher auf eine Verlängerung einigte. Allein das ist für viele unbegreiflich. Bisher bekamen Amerikaner, die ihre Jobs verloren haben, zusätzlich zur mageren Arbeitslosenstütze pro Woche 600 Dollar extra. Diese Hilfen fallen nun auch weg, fast 32 Millionen Menschen sind betroffen.

Wochenlang stritten sich Demokraten, Republikaner und das Weiße Haus um ein neues Billionenprogramm. Die Demokraten wollen die Zahlungen bis zum Jahresende verlängern. Die Republikaner wollen sie von 600 auf 200 Dollar reduzieren, doch zugleich dem Pentagon 14 Milliarden Dollar zuweisen und der Rüstungsindustrie 11 Milliarden Dollar. Das Weiße Haus will teure Lieblingsprojekte von Präsident Trump finanzieren.

Eine Unwucht gibt es auch bei den Chefgehältern: Während viele US-Konzerne Millionen Arbeitnehmer fristlos auf die Straße setzten, bekommen ihre Vorstandsvorsitzenden weiter Millionenbezüge. Manche verzichten zwar demonstrativ auf Teile ihres Salärs, der US-Gewerkschaftsbund AFL-CIO kritisiert das aber als "kosmetisch". Er hatte eine Umfrage unter gut 3000 Firmen durchgeführt, darunter wankende Branchenriesen wie Disney, Delta Air Lines, United Airlines und Marriott.

Welche Folgen diese Diskrepanzen haben können, je länger sie anhalten, beschreiben die Politologen Michael Bang Petersen, Mathias Osmundsen und Alexander Bor in einer neuen Studie: "Hervortreten demagogischer Führer, Ausbruch von Straßenkrawallen, Umlauf von Falschinformationen und extrem feindselige politische Gefechte in den sozialen Medien." Kommt einem bekannt vor?

Die Weltwirtschaftskrise der Dreißigerjahre beförderte in Europa einst den Faschismus. Die USA retteten sich mit dem New Deal aus der Rezession – mit den Wirtschaftsreformen von Franklin D. Roosevelt. Die Autoren der besagten Studie sind nicht so optimistisch, was Donald Trump angeht.

Dieser ignoriert die Realität weiter, behauptete am Donnerstagabend sogar, die USA erlebten gerade ein "ökonomisches Comeback", und brachte erneut eine Verschiebung der Präsidentschaftswahlen ins Gespräch, was er gar nicht selbst entscheiden kann. Den ersten Tweet dazu postete er um 8.46 Uhr morgens – genau 16 Minuten nach den BIP-Zahlen.

Icon: Der Spiegel

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