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Thomas Oppermann – Nachruf: Der Bassist

October 26
14:22 2020
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Thomas Oppermann (1954 – 2020)

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Thomas Trutschel / photothek.net / imago images

Wenn Thomas Oppermann eine Pointe setzen wollte, wusste man das meist schon kurz vorher. Er hielt dann kurz inne, räusperte sich kräftig, und es war klar: Jetzt kommt wieder irgendwas, ein kleiner Gag, ein Seitenhieb auf den politischen Gegner. Meistens saß die Pointe.

Es gab eine Zeit, in der Thomas Oppermann sich besonders oft geräuspert hat. Er war damals, vor der Bundestagswahl 2013, Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion, in Sitzungswochen veranstaltete er Pressegespräche, sogenannte Hintergrundrunden, es gab Rührei mit Krabben, aber nicht nur deshalb kam man gern. Die Attraktion dieser Gespräche war mehr und mehr Oppermann selbst. Eigentlich sollte es vor allem um die Tagesordnung der bevorstehenden Plenarsitzung gehen, doch Oppermann hielt sich mit der trockenen Materie nicht länger auf als unbedingt notwendig. Stattdessen machte er aus der Runde zeitweise eine Art politischer Stand-up-Comedy.

Traum vom Ministeramt erfüllte sich nicht

Er genoss es, wenn die Medienvertreter immer wieder lachen mussten, er bereitete seine Pointen offensichtlich gründlich vor, und von Mal zu Mal steigerte er die Dichte der Gags. Es war, auch wenn er dann manchmal übers Ziel hinausschoss, immer unterhaltsam, ein Pflichttermin im politischen Berlin. Unter seinen Nachfolgern hielt dann wieder der Charme der Tagesordnung Einzug. Unterhaltsam ist in diesen Runden seither nichts mehr.

Nach seinen Jahren als Parlamentarischer Geschäftsführer führte Oppermann als Vorsitzender die SPD-Bundestagsfraktion, nach der Wahl 2017 wurde er Vizepräsident des Bundestags. Der Sozialdemokrat wäre immer gern Minister geworden, aber sein großer Traum erfüllte sich nicht, jedenfalls nicht auf der Bundesebene. Stattdessen blieb Oppermann in der Politik das, was in einer Rockband der Bassist ist: Fotografiert werden meist die anderen. Aber wenn der Bassist fehlt, geht nichts mehr.

Bassisten sind oft ein bisschen eigenbrötlerisch, ihnen hängt ein ähnlicher Ruf an wie den Torhütern im Fußball. Meist drängt es sie aber auch nicht ganz nach vorn auf der Bühne. Oppermann war nie so, er wollte ganz nach vorn. Er war ein Bassist, ohne das Gemüt eines Bassisten zu haben. Vielleicht war das die kleine Tragik in seiner ansonsten großen politischen Karriere.

Oppermanns Aufstieg in die erste Reihe der deutschen Politik war auch das Ergebnis sozialdemokratischer Bildungspolitik. Sein Vater war Molkereimeister, die Mutter erzog die vier Kinder. In der Schule blieb Oppermann zweimal sitzen, machte aber, anders als seine Geschwister, das Abitur. Er fing an, Germanistik und Anglistik zu studieren, brach ab und begann ein Jurastudium in Göttingen. Er war Stipendiat der Friedrich-Ebert-Stiftung, nebenher arbeitete er als Nachtwächter und Bauarbeiter.

Politisch ging es schnell nach oben. 1990 zog Oppermann in den niedersächsischen Landtag ein, 1998 wurde er jüngster Minister im Landeskabinett von Gerhard Schröder, verantwortete das Ressort für Wissenschaft und Kultur. Als Schröders Nachfolger Gerhard Glogowski Ende 1999 zurücktreten musste, gehörte Oppermann zu den jungen Wilden, die ihm gern als Ministerpräsident nachgefolgt wären. Doch das Rennen machte ein anderer, noch etwas wilderer Junger: Sigmar Gabriel. Es war die erste Gelegenheit, bei der Oppermann der Sprung ins ganz große Rampenlicht verwehrt blieb.

Harter Verhandler und politischer Stratege

Dafür gelang ihm etwas, woran viele Politiker scheitern, die es in der Landespolitik zu etwas gebracht haben: eine zweite Karriere in Berlin, auf der Bundesebene. Bei der Bundestagswahl 2005 holte er für die SPD das Direktmandat in Göttingen. Schnell erarbeitete er sich im Bundestag einen Ruf als harter Verhandler und politischer Stratege. Im Geheimdienst-Untersuchungsausschuss verteidigte er den damaligen Außenminister Frank-Walter Steinmeier. 2013, bei der Neuauflage der Großen Koalition, galt er als sicherer Anwärter auf einen Ministerposten. Aus Proporzgründen wurde daraus nichts, es gab schlicht zu viele Männer aus Niedersachsen. Wieder stand ihm Sigmar Gabriel im Weg, damals Parteichef. Oppermann wurde Fraktionschef, obwohl er eigentlich gar nicht wollte.

Den Drang nach ganz vorn hatte er offenbar schon immer. Als Oppermann 2014 in Göttingen seinen 60. Geburtstag feierte, hielt dort ein alter Freund aus Studientagen eine Rede. Er war Mitglied einer Wandergruppe, mit der Oppermann, ein leidenschaftlicher Wanderer, schon vor Jahrzehnten unterwegs gewesen war, und er berichtete, wie es gewesen sei, mit dem Thomas Fußball zu spielen: Da habe er gern mal den gut platzierten Mitspieler übersehen und lieber selbst aufs Tor geschossen. Beim Wandern habe er stets den leichtesten Rucksack gehabt, aber am lautesten über das schwere Gepäck lamentiert. Irgendwann packten die Freunde ihm genervt einen dicken Stein in den Rucksack.

Oppermann korrigierte damals: Das mit dem leichten Rucksack stimme zwar (er packe "intelligenter" als andere), aber lamentiert habe er nicht – sondern sich nur darüber beklagt, dass die anderen seinem Tempo nicht folgen konnten. Daher die Idee mit dem Stein.

Später lud er einmal im Jahr Journalisten zur Wanderung auf den Brocken. Er wollte so die Schönheit seiner Heimat präsentieren, aber natürlich immer auch verdeutlichen, wie schnell er für sein Alter war, wie fit und kernig. In T-Shirt und Laufschuhen marschierte Oppermann vorneweg, es gab Kollegen, die hatten ihre Probleme mitzuhalten. Oben auf der Hütte gab es einen Schnaps.

Oppermann hatte seine Freude daran, sich mit dem politischen Gegner anzulegen, nicht einmal Bundespräsidenten waren vor ihm sicher. Als Horst Köhler 2010 darüber philosophiert hatte, Deutschlands Wirtschaftsinteressen auch militärisch abzusichern, giftete Oppermann: "Wir wollen keine Wirtschaftskriege." Nur Tage später trat Köhler als Bundespräsident zurück.

Reizfigur für die Parteilinken

Der Nachteil seiner Angriffslust war, dass kaum jemand Mitleid mit Oppermann hatte, wenn er selbst in Schwierigkeiten geriet. Die Kinderpornografie-Affäre um den Innenexperten Sebastian Edathy kostete Oppermann fast den Job. Den Verdacht, er habe sich damals vom Bundeskriminalamt Insiderinfos besorgt und Edathy vor staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen gewarnt, konnte er nie wirklich ausräumen. Nur mit Mühe überstand er einen Untersuchungsausschuss.

Wäre diese Episode nicht gewesen, wäre Oppermanns Name in den sozialdemokratischen Personaldebatten der vergangenen Jahre unter Garantie irgendwann gefallen. Vor allem als Kanzlerkandidat wäre er ohne diesen Ballast eine denkbare Wahl gewesen.

Oppermann, Vater von vier Kindern, sah stets jünger und frischer aus, als er war, er konnte mit Kameras spielen, und er konnte im direkten Gespräch sehr charmant sein. Vor allem aber stand er für eine Sozialdemokratie, die noch auf Mehrheiten zielte: nie ideologisch, im Zweifel immer pragmatisch. Oppermann fühlte sich den eher konservativen Seeheimern in der SPD zugehörig, auch bei den pragmatischen Netzwerkern schaute er gern mal vorbei. Für die Linken in der Partei war er eine Reizfigur, doch auch sie respektierten ihn dafür, dass er das politische Handwerk beherrschte wie kaum jemand.

Zuletzt, in der Coronakrise, stritt Oppermann vor allem dafür, dem Bundestag wieder mehr Einfluss zu verschaffen. Ausgerechnet er, der so gern einmal im Kabinett gesessen und wohl auch einen hervorragenden Regierungspolitiker abgegeben hätte, war über die Jahre und durch die Fügungen des Lebens zu einem leidenschaftlichen Parlamentarier geworden.

Das wäre so eine Pointe gewesen, wie sie Thomas Oppermann gefallen hätte. Kurz vorher hätte er sich noch mal kräftig geräuspert.

Am Sonntag ist der Sozialdemokrat im Alter von 66 Jahren gestorben.

Icon: Der Spiegel

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