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SPD-Chef Norbert Walter-Borjans im Interview zu Maßnahmen gegen Corona und Großer Koalition

October 18
08:37 2020
SPD-Chef Norbert Walter-Borjans: "Die deutsche Bevölkerung verhält sich in ihrer großen Mehrheit vorbildlich" Icon: vergrößern

SPD-Chef Norbert Walter-Borjans: "Die deutsche Bevölkerung verhält sich in ihrer großen Mehrheit vorbildlich"

Foto: Steffen Roth / DER SPIEGEL

SPIEGEL: Herr Walter-Borjans, der Bund-Länder-Kompromiss im Kampf gegen Corona ist erst wenige Tage alt, schon zerfasert er. Kritiker halten das Paket für zu schwach, Gerichte kippen Einzelmaßnahmen. Was tun?

Walter-Borjans: In der aktuellen Ausnahmesituation bewegen wir uns zwangsläufig zwischen dem Vorwurf des fahrlässigen Treibenlassens und der Einschränkung von Grundrechten. Was wir zurzeit erleben, ist erstens Neuland und zweitens ein Grenzgang, der in einem Rechtsstaat immer wieder einer gerichtlichen Prüfung standhalten muss. Dass dabei auch Korrekturen eingefordert werden, zeigt, dass unser Rechtsstaat funktioniert.

Es entbindet die Politik aber nicht von der Verpflichtung, weiter alle Möglichkeiten auszuschöpfen, um das Infektionsgeschehen im Griff zu behalten. Es ist ein Flug auf Sicht. Welche Gruppengrößen und Sperrzeiten angemessen sind, kann genauso wenig zweifelsfrei bestimmt werden wie die zulässige Höchstgeschwindigkeit innerorts. Wer sagt mir, dass 52 km/h nicht richtiger sind als 50 km/h? Selbstverständlich muss aber jede noch so verantwortungsvoll getroffene Entscheidung gerichtlich überprüfbar sein.

SPIEGEL: Ist der deutsche Föderalismus mit all seinen Partikularinteressen in einer solchen Krisensituation ungeahnten Ausmaßes überhaupt noch handlungsfähig?

Walter-Borjans: Deutschland hat seine starke Stellung nicht trotz, sondern wegen seines föderalen Aufbaus. Wenn wir im erstens halben Jahr eines gelernt haben, dann doch, dass bundeseinheitliche Regeln für alles eine besonders harte Keule sind – ganz besonders für die weniger betroffenen Regionen. Wir haben nun mal ganz verschiedene Corona-Bedingungen in Deutschland – etwa in Ballungsgebieten und auf dem Land.

Wenn wir den Bürgerinnen und Bürgern und der Wirtschaft so wenig Beschränkungen wie nötig auferlegen wollen, dann müssen wir differenziert vorgehen. In einer bislang unbekannten Situation ist ein gewisser Wettbewerb an Lösungsideen im Übrigen nicht das Schlechteste. Was wir allerdings brauchen, ist ein gemeinsam festgelegter Instrumentenkasten und dann eine regional differenzierte, transparente und plausible Anwendung. Was wir nicht brauchen, ist der Missbrauch einer ernsten Lage für persönliche Profilierung.

SPIEGEL: Wie lange werden einzelne Bundesländer noch am Beherbergungsverbot festhalten können?

Walter-Borjans: Ich verstehe die Sorge der Landesmütter und Landesväter, dass Reisen das Virus auch in Gegenden bringen könnte, die bislang weitgehend verschont sind. Trotzdem ist ein generelles Beherbergungsverbot ein harter Schnitt. Viel entscheidender als die Frage, wo man sich infiziert, ist doch, wie man sich infiziert: auf Partys, bei großen privaten Feiern, besonders in schlecht belüfteten Räumen. Der Reiseanlass Berg- oder Strandwanderung ist vermutlich weniger riskant als ein Partywochenende.

Aber auch hier gilt die Verpflichtung zur Güterabwägung in den einzelnen Ländern, um zu einer verantwortungsbewussten Entscheidung und gegebenenfalls zu einer Korrektur zu kommen. Ich habe jedenfalls großen Respekt vor allen, die diese Entscheidungen treffen und verantworten.

SPIEGEL: Sind Sie eher im "Team Umsicht und Vorsicht", wo CSU-Chef Markus Söder die Kanzlerin und sich selbst verortet oder im lässigeren "Team Laschet", des CDU-Ministerpräsidenten Ihrer Heimat Nordrhein-Westfalen?

Walter-Borjans: Ich bin für klare Ansagen. Politik kann im Augenblick zwar nur auf die epidemiologische Entwicklung reagieren, aber sie kann das zumindest sehr schnell und zeitnah tun. Und darauf kommt es an. Die deutsche Bevölkerung verhält sich in ihrer großen Mehrheit vorbildlich. Aber es gibt einzelne Gruppen, die glauben, sie gehe das alles nichts an und das Virus sei für sie ungefährlich – von der Fahrlässigkeit gegenüber anderen ganz zu schweigen. Wegen der Unvernunft dieser wenigen muss der Staat Maßnahmen erlassen, die der Gesamtbevölkerung ein Stück ihrer Lebensfreiheit nehmen.

SPIEGEL: Sie spielen auf die jüngere Generation mit ihren illegalen Partys und private Familienfeiern an, beides zuletzt die Hauptreiber der Infektionslage in Deutschland. Wie kann man diese Leute stoppen?

Walter-Borjans: Es geht nicht um den erhobenen Zeigefinger gegenüber einer einzigen Generation. Es gibt auch genügend feucht-fröhliche Feiern älterer Semester. Natürlich können Sie nicht den gesamten privaten Bereich kontrollieren. Aber ich bin davon überzeugt, dass wir durch klare Sanktionsansagen mehr Disziplin erreichen können. Es gibt ja auch so etwas wie eine soziale Kontrolle, und den vernünftigen Teilnehmern einer Familienfeier stärken verbindlich geltende Regeln durchaus den Rücken.

SPIEGEL: Diese Krise ist für uns alle ein Charaktertest. Versagen die Jüngeren dabei?

Walter-Borjans: Mal ehrlich: Jeder kann sich doch an eigenes, nicht besonders vernünftiges Verhalten erinnern, als er noch jünger war. Wir sollten nicht einer ganzen Generation schlechten Charakter unterstellen, weil da unbeschwertes Zusammensein häufiger vorkommt – aber wir sollten noch deutlicher als bisher an ihre Verantwortung appellieren. Denn offenbar ist bei vielen Jüngeren noch immer die Erzählung verbreitet, dass sie ja selbst keine Risikogruppe seien, also entspannt sein können. Da müssen wir dieser Generation, die in unserer Gesellschaft in vielen ethischen Fragen wie Klimaschutz oder internationale Konflikte ein wichtiger Mahner ist, ganz unmissverständlich sagen: Es geht auch hier nicht nur um Euch, sondern Ihr gefährdet mit Eurem Verhalten auch andere, besonders die Schwächeren.

SPIEGEL: Seit Ausbruch der Coronakrise hat sich die Große Koalition stabilisiert, keiner spricht mehr über ein vorzeitiges Ende. Trügt dieser Eindruck?

Walter-Borjans: Wenn ein Schiff in schwerer See ist, dann arbeitet die Mannschaft Hand in Hand und sorgt dafür, dass der Kahn über Wasser bleibt. Das machen wir gerade in der Großen Koalition und das funktioniert gut. Es stellt sich aber die Frage: Wohin geht es denn eigentlich, wenn wir wieder in ruhigerem Gewässer sind? Dieser Streit um den richtigen Kurs ist angesichts der aktuellen Herausforderungen in den Hintergrund getreten, aber das Regieren wird wieder schwieriger werden. Bedenken Sie nur, dass die CDU noch immer nicht geklärt hat, wer sie denn führen und was ihr Kurs sein soll.

SPIEGEL: Wo sehen Sie dieses Konfliktpotenzial?

Walter-Borjans: Da sind viele Punkte, bei denen es erkennbar hakt. Etwa die Werk- und Zeitverträge in der Fleischindustrie, die wir abschaffen wollen. Da blockieren CDU und CSU. Oder das Lieferkettengesetz, das wir im Koalitionsvertrag vereinbart haben. Damit soll sichergestellt werden, dass bei von den Zulieferern im Ausland auch Menschenrechte und Umweltstandards eingehalten werden. Wohlstand und Anstand dürfen kein Gegensatz sein. Wir dürfen unseren Lebensstandard nicht auf dem Unglück anderer aufbauen.

SPIEGEL: Beim Lobbyregister hakt es ebenfalls.

Walter-Borjans: So ist es. Bei Gesetzesentwürfen muss transparent sein, wer daran von externer Seite mitgeschrieben hat. Das ist aber bislang mit CDU und CSU nicht zu machen. Die beiden Parteien haben offenbar nichts dagegen, wenn der Einfluss der Wirtschaft intransparent bleibt. Und wissen Sie, was Wirtschaftsminister Peter Altmaier zur Frage von Frauen in Führungspositionen sagt?

SPIEGEL: Er hat immer wieder erklärt, er wolle mehr Frauen in Führungsverantwortung, hat sich selbst sogar als "Feminist" bezeichnet…

Walter-Borjans: …aber in Wahrheit blockiert er den SPD-Gesetzesvorschlag für mehr Frauen in den Vorständen mit dem Argument, dass die Wirtschaft das einfach nicht wolle. Nicht ein einziges Dax-Unternehmen hierzulande wird von einer Frau geführt und der Wirtschaftsminister stützt diese Misere mit dem Argument, die Unternehmen dürften nicht stärker belastet werden. Das ist eine Unverfrorenheit. Oder Innenminister Horst Seehofer: Wir hatten uns vor Wochen darauf geeinigt, dass als Soforthilfe 1500 Geflüchtete aus Griechenland aufgenommen werden. Aber nichts geschieht. So geht das nicht.

SPIEGEL: Was folgern Sie daraus?

Walter-Borjans: CDU und CSU stehlen sich zunehmend aus ihrer Verantwortung als Koalitionspartner.

SPIEGEL: Welcher der drei CDU-Vorsitzkandidaten wäre Ihnen denn der liebste Partner in der Koalition und spätere Gegner im Wahlkampf?

Walter-Borjans: Ich kann mir schon vorstellen, welcher Kandidat womöglich einen größeren Teil der eigenen Wählerschaft von CDU und CSU verschreckt.

SPIEGEL: Aber Sie wollen nicht sagen, dass dies Ihrer Meinung nach Friedrich Merz ist?

Walter-Borjans: Weder habe ich vor, der CDU ernsthaft Ratschläge zu erteilen, noch würde ich das aus taktischen Gründen tun.

SPIEGEL: Sie setzen trotz anhaltend schlechter Umfragewerte für die SPD auf ein offenes Kanzler-Rennen wegen des nahenden Merkel-Exits. Reicht das als Strategie?

Walter-Borjans: Angela Merkel hat Qualitäten, die ich bei keinem der drei CDU-Kandidaten erkennen kann.

SPIEGEL: Ja? Loben Sie mal die Kanzlerin!

Walter-Borjans: Ich vergebe mir nichts, wenn ich ihren Dauereinsatz hervorhebe, fast jeden Tag selbst mit den ungemütlichsten Akteuren der Welt zu telefonieren, um zur Mäßigung im Verhältnis untereinander beizutragen und Lösungen zu finden – eine enorm wichtige Aufgabe. In dieser Rolle sehe ich weder Armin Laschet, noch Norbert Röttgen, noch Friedrich Merz. Und übrigens schon gar nicht Markus Söder. Damit kommt man ja nicht in die "Tagesthemen". Aber unser Kandidat Olaf Scholz ist dazu in der Lage. Der macht das gleiche, egal ob im Kabinett oder mit seinen Kollegen in der EU – und hat damit schon enorm viel von unserer gemeinsamen Politik umgesetzt.

SPIEGEL: Keine Sorge, dass Angela Merkel doch noch mal antritt?

Walter-Borjans: Ich kann nachvollziehen, dass mancher in der CDU sich das wünscht. Aber es wird nicht so kommen.

SPIEGEL: Wer regiert nach der Bundestagswahl 2021: Schwarz-Grün oder Schwarz-Rot?

Walter-Borjans: Unser oberstes Ziel ist es, dass die SPD so stark wie nur möglich abschneidet. Und das geht nur, indem wir weiter gute sozialdemokratische Politik für die Wählerinnen und Wähler unter Beweis stellen und damit wieder einen Vertrauensvorschuss dafür gewinnen, dass wir auch in Zukunft der Garant für wirtschaftliche und soziale Stabilität sind. Wir wollen weiter regieren, aber ohne CDU und CSU. Die gehören mal in die Opposition.

SPIEGEL: Also SPD-Kanzlerschaft oder Opposition?

Walter-Borjans: Wir wollen den künftigen Kanzler stellen – und unter die Zeit als Juniorpartner der Union einen Schlussstrich ziehen. Die SPD sollte nicht auf die Fortsetzung der GroKo schielen. Regieren ist besser als Opponieren. Aber Regieren und dabei die Rolle als soziale Volkspartei zu verlieren, dient weder der Partei noch dem Land.

SPIEGEL: Warum sorgt die SPD eigentlich nicht dafür, dass Andreas Scheuer nicht mehr Minister ist?

Walter-Borjans: Wir als Koalitionspartner wären gefragt, wenn nachweislich gegen Recht und Gesetz gehandelt wurde. Beim dringenden Verdacht der Falschaussage Scheuers im Zusammenhang mit dem Maut-Vertrag steht bisher aber Aussage gegen Aussage. Bisher ist kein Rechtsvergehen nachgewiesen. Solange das der Fall ist, liegt der Ball politisch beim CSU-Chef. Markus Söder hat zu vertreten, wer für die CSU ein Ministeramt hat. Die nächste Instanz ist die Regierungschefin. Den bisherigen Verbleib Andreas Scheuers der SPD anzuhängen, hat für mich etwas, das mich und die schon etwas Älteren an Rudi Carrell erinnert. Die SPD ist aber für das Personal der CSU genauso wenig zuständig wie für einen verregneten Sommer. Auch wenn wir den dieses Jahr gar nicht hatten.

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