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Fred Turner: “Ich fürchte, dass die Menschen den Maschinen mehr vertrauen als der Politik”

May 28
16:57 2020
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Der Apple Park Campus im kalifornischen Cupertino

Sam Hall/ Bloomberg/ Getty Images

Die Pandemie beschleunigt die Digitalisierung und macht die großen US-Techfirmen zu Krisengewinnern. Fred Turner, 59, Professor für Kommunikation in Stanford und seit vielen Jahren ein ebenso prominenter wie skeptischer Beobachter des Silicon Valley, macht das große Sorgen. Turner hat in seinem einflussreichen Buch "From Counterculture to Cyberculture" die Geburt von späteren Digitalgiganten wie Apple und Google aus dem Geist der anarchischen Hippie-Bewegung nachgezeichnet. Nun fürchtet er, dass das Coronavirus die gesellschaftliche Akzeptanz von weitreichenden Überwachungstechnologien beflügeln könnte.

SPIEGEL: Herr Turner, Sie gelten als eine Art Haushistoriker des Silicon Valley und beobachten die Digitalwirtschaft beinahe seit ihren Anfängen. Ist die Coronakrise ein Epochenbruch, der endgültige Siegeszug der Digitalisierung?

Turner: Der Tech-Industrie bietet sich gerade die dunkle Gelegenheit, einige ihrer alten Utopien in die Tat umzusetzen. Das beobachte ich mit großer Sorge.

SPIEGEL: Welche Utopien meinen Sie?

Turner: Die Bestrebungen, ein umfassendes Überwachungssystem zu entwickeln, teils von Privatfirmen, teils von Regierungen. Akteure, die solche Datensysteme bauen, verkaufen sie an Staaten mit dem Versprechen, dass sie medizinische oder soziale Probleme lösen. Das Coronavirus bietet jetzt den perfekten Vorwand, so etwas aggressiv voranzutreiben. Nun heißt es: "Südkorea hat das Virus in den Griff gekriegt, weil das Land über seine Bürger viel mehr Daten sammelt als wir. Wir müssen es genauso machen."

SPIEGEL: Woran denken Sie genau? An die Tracing-App, an der Google und Apple mitarbeiten? An Peter Thiels Big-Data-Firma Palantir, die angeblich mit Washington zusammenarbeitet, um die Daten von Coronavirus-Tests zu sammeln?

Turner: Im Datenbusiness wittern gerade alle Morgenluft. Diverse Programme, die zu kommerziellen, scheinbar harmlosen Zwecken entwickelt wurden, können für staatliche Überwachungszwecke genutzt werden. Man denke nur an Gesichtserkennung, wo das schon begonnen hat. Tracking, also das Nachvollziehen und Auswerten unserer digitalen Spuren, ist bereits so allgegenwärtig, dass wir es kaum noch wahrnehmen. Es erinnert alles sehr an 9/11.

SPIEGEL: Sie vergleichen das Coronavirus mit den Anschlägen des 11. September?

Turner: Die Anschläge auf die Twin Towers gaben der Bush-Regierung den perfekten Vorwand, um einen völlig unnötigen Krieg zu lancieren. Diese Pandemie ist der perfekte Vorwand, eine Art Big-Data-Gesellschaft zu schaffen, die wir nicht brauchen und die den autoritären Staat begünstigt.

SPIEGEL: Das ist ein sehr pessimistischer Blick. Viele Menschen schätzen gerade jetzt die Zuverlässigkeit digitaler Kommunikationstechnologien wie etwa Zoom, die das Leben im Homeoffice erst ermöglichen. Sie schätzen die Lieferdienste von Amazon, die Kontaktnetze von Facebook, die Verlässlichkeit ihrer Apple-Geräte mehr denn je. Ihnen geht das anders?

Turner: Ein immer wiederkehrender Verführungsversuch in der Geschichte des Silicon Valley und der amerikanischen Tech-Industrie insgesamt ist das Versprechen, dass technologische Systeme gesellschaftliche Infrastrukturen ersetzen können. Dass mittels digitaler Technologien diverse soziale, politische, wirtschaftliche oder demokratische Defizite eingedämmt werden können. Verstehen Sie?

SPIEGEL: Ja. Aber die Frage war viel kleiner als ihre Antwort.

Turner: Ich komme auf Ihre Frage zurück. Ich spreche von langfristigen Gefahren. Kurzfristig erleben wir, dass praktische Dienstleistungen wie Zoom es uns erlauben, trotz des Lockdowns miteinander in Kontakt zu bleiben. Das ist angenehm. Aber ich kann Ihnen auch sagen, dass es immer noch das Telefon gäbe, hätten wir das Internet nicht. Und vor dem Telefon gab es die Briefpost.

SPIEGEL: Worauf wollen Sie hinaus? Die heutige Arbeitswelt könnte doch unmöglich nur mit Telefon oder gar Briefpost funktionieren.

Turner: Ich meine das eher als Metapher. Das Bedürfnis nach Kommunikation verlangt nicht notwendigerweise nach dem Internet. Allgemeiner gesprochen: Die Probleme, die wir haben, verlangen nicht notwendigerweise nach digitalen Lösungen. Aber genau das scheinen die Leute unter dem Eindruck der Coronakrise zu glauben. Und das macht mich nervös – vor allem mit Blick auf die USA. Wir haben in unserem Land eine ganze Reihe tiefgreifender Missstände: die Ungleichheit, den Rassismus, ein dysfunktionales politisches System. Es wäre fatal, wenn nun so bequeme Angebote wie Zoom die Leute glauben machen, dass die Digitalisierung für alles eine Lösung hat.

SPIEGEL: Es ist nicht mein Eindruck, dass die Menschen das glauben.

Turner: Aber das ist die Geschichte, die die Silicon-Valley-Firmen uns seit langer Zeit zu verkaufen versuchen. Das ist das altbekannte Mantra der Westküsten-Utopia: "Wir hier, wir sehen die Zukunft. Ihr da drüben in Washington und Boston seid zu nah an Europa, ihr seid gefangen im Denken der alten Welt. Die Zukunft ist globale Vernetzung, ist Daten für alles, ist Kommunikation statt Politik." Die Coronakrise bietet die ideale Gelegenheit, diese utopische Vision glaubwürdig erscheinen zu lassen.

SPIEGEL: Ihre generellen Bedenken in Ehren, aber beim Tracing von Covid-19-Fällen, beim Auswerten und Organisieren der Testdaten können digitale Technologien doch tatsächlich sehr hilfreich sein.

Turner: Ich bezweifle nicht, dass es Anwendungsbereiche gibt, wo das Silicon Valley dem Staat behilflich sein kann. Aber diese Technologien dürfen die Politik nicht ersetzen, sondern sollen ihr zu Diensten sein. Ich habe aber lange genug im Silicon Valley gelebt und geforscht, um zu wissen, dass seine Akteure davon ausgehen, dass wir den Staat eigentlich nicht brauchen. Dass wir mithilfe digitaler Technologien Koalitionen bilden können und Communitys, die sich selbst regulieren. Wir treffen uns auf Facebook, wir kommunizieren via Twitter, wir kommen alle zusammen. Wir müssen nur unsere Köpfe und Gedanken zusammenstecken, und unsere politischen Konflikte verschwinden. Darin liegt die Idee, dass wir unsere hyperpolarisierten politischen Institutionen überwinden können und letztlich nicht mehr brauchen. Seit ihren Anfängen gehörte dieses Hirngespinst zur Techkultur an der Westküste, die aus einer Gegenkultur erwachsen ist.

SPIEGEL: Darüber haben Sie vor Jahren ein Buch geschrieben, "From Counterculture to Cyberculture".

Turner: Apple produzierte 1984 den berühmten Orwell-Werbeclip, dessen Pointe darin bestand, dass der Apple-Computer dafür sorgt, dass das Jahr 1984 nicht so wird wie in Orwells dystopischem Roman "1984". Der Macintosh befreit also die Menschen aus den Fängen des Staates. Googles alter Leitspruch "Don't be evil" war ebenfalls gegen den Staat gerichtet, weil es seiner Logik nach die Staaten sind, die Böses tun. Jetzt, da die Digitalisierung in immer weiteren Bereichen des Lebens Anwendung findet und da Zoom uns in der Krise hilft, fürchte ich, dass die Menschen den Maschinen mehr vertrauen als der Politik. Sie denken: Die Technologie wird es schon richten.

SPIEGEL: Die amerikanische Politik gibt in dieser Krise tatsächlich kein gutes Bild ab.

Turner: Unsere Regierung ist komplett überfordert. Nicht wenige Amerikaner, mich eingeschlossen, schauen mit Neid auf Deutschland, auf Angela Merkel. Warum schaffen wir nicht, was Deutschland schafft? Warum kriegen wir die Tests nicht hin? Es ist beschämend. Unser politisches System liegt darnieder. Amerika hat Deutschland 1945 die Demokratie gebracht, und ich glaube, es wäre langsam an der Zeit, dass Deutschland den USA die Demokratie wieder zurückbringt.

SPIEGEL: Guter Satz! Aber noch mal konkret: Wo sehen Sie Anzeichen, dass die Tech-Industrie versucht, den Staat zu ersetzen?

Turner: Ein Beispiel sind die Zehntausenden von Angestellten bei Twitter, Google, YouTube und vor allem bei Facebook, die die Inhalte der Nutzer nach Dingen absuchen, die gegen ihre Hausregeln verstoßen. Was diese Content-Moderatoren so finden, ist oft nicht nur schockierend, sondern auf himmelschreiende Weise illegal. Das ist eine Aufgabe, die üblicherweise der Staat übernimmt, die Polizei, das FBI.

SPIEGEL: Bei der Schulbildung verlässt sich der Staat auf eine digitale Infrastruktur, die von privaten Konzernen betrieben wird. Und es gibt enorme Ungleichheiten beim Zugang.

Turner: Richtig. Das erlebe ich selbst in meiner Stanford-Vorlesung. Da hören rund 90 Studenten zu, etwa 15 von ihnen haben keine stabile Internetverbindung. Und das ist Stanford! Ich möchte nicht wissen, wie viele hunderttausend Kinder und Studenten im Moment keinen ordentlichen Zugang zum staatlichen Bildungsangebot haben. Auch hier sehe ich wieder die alte Silicon-Valley-Illusion am Werk, dass globale Kommunikationssysteme auf magische Weise den Informationstransfer für alle Menschen gewährleisten, schlicht weil digitale Signale theoretisch überallhin reichen können. Tun sie aber nicht. Es ist erneut der Staat, der für eine Gleichheit der digitalen Lebensgrundlagen sorgen müsste. Tut er aber nicht. Zumindest in diesem Land nicht.

SPIEGEL: Andererseits könnte E-Voting die Ungerechtigkeiten im Wahlprozedere der USA lösen, wo komplizierte Regeln die Wahlbeteiligung etwa von Schwarzen oder Latinos erschweren. Würden Wahlen per Internet nicht die Diskriminierung bestimmter Wählerschichten beseitigen?

Turner: Da bin ich entschieden anderer Meinung. Diese Systeme sind hochgradig unsicher. Ein digitalisierter Wahlprozess ist furchtbar einfach zu hacken. In der Theorie ist das ein schöner Gedanke: Jeder kann von zu Hause aus abstimmen. Aber es funktioniert nicht, und ich fürchte, es wird auch nie funktionieren. Stellen Sie sich vor, was bei der Bush-Gore-Wahl von 2000 in Florida los gewesen wäre, wenn man keine physischen Abstimmungszettel zum Nachzählen gehabt hätte. Bush gewann damals nach einer Nachzählung mit wenigen Hundert Stimmen Vorsprung.

SPIEGEL: Wenn Big Tech uns nicht retten kann, was dann? Welche Kräfte werden die Nach-Corona-Welt gestalten?

Turner: Was heißt retten? Was wollen wir retten, was vielleicht lieber nicht? Möglicherweise müssen wir auf einen Lebensstil hinarbeiten, der sich stark von den Idealen der vergangenen 50 Jahre unterscheidet. Vielleicht kommen wir weg von der globalen Interkonnektivität, weg von Flugzeugen mit WiFi, die uns nonstop um die Erde fliegen und dabei das Klima belasten – hin zu einem neuen Lokalismus. Menschen und Güter würden weniger reisen, wir würden uns lokal ernähren und lokal organisieren. Dabei könnten digitale Technologien enorm behilflich sein. Das ist die korrekte Reihenfolge: Wir müssen uns zuerst fragen, in welcher Welt wir leben wollen, und danach entscheiden wir, welche Technologien uns auf diesem Weg helfen können. Nicht umgekehrt.

SPIEGEL: Wie kommen Sie derzeit persönlich zurecht mit der Lebensweise, die uns die Pandemie aufzwingt?

Turner: Oh, mein Leben ist wie geschaffen für das Coronavirus! Die meiste Zeit halte ich mich ohnehin allein in einem Zimmer auf, hier in Stanford, gemeinsam mit Büchern und einem Computer. Nun halte ich meine Vorlesungen eben online. Mir fehlt zwar der persönliche Austausch mit Studenten und Kollegen, aber im Gegensatz zu vielen anderen habe ich keine großen Opfer zu bringen.

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