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Die Grünen: Wer hat Angst vor Olaf Scholz?

August 11
07:57 2020
Robert Habeck: "Führen heißt aus eigener Überlegung, aus eigener Kraft, aus eigener strategischer Analyse heraus die richtigen Entscheidungen zu treffen" Icon: vergrößern

Robert Habeck: "Führen heißt aus eigener Überlegung, aus eigener Kraft, aus eigener strategischer Analyse heraus die richtigen Entscheidungen zu treffen"

Foto: Britta Pedersen/ dpa

Es sollte eigentlich ein Montag sein, an dem in Berlin so rein gar nichts passiert. Der Bundestag ist in der Sommerpause, es ist heiß, der parlamentarische Betrieb wirkt in diesen Tagen wie eingeschlafen. Dann, viertel vor elf, laufen die ersten Eilmeldungen über die Ticker: Finanzminister Olaf Scholz wird Kanzlerkandidat der SPD. Sommerpause ade also?

Nicht für die Grünen: Für die ändere die Kandidatur von Scholz "gar nichts", sagt Parteichef Robert Habeck auf einer Pressekonferenz. "Wir haben damit gerechnet, jetzt ist es so gekommen. Wie erwartet", sagt er. Langweiliger könnte er die politische Nachricht dieses Sommers wohl kaum kommentieren.

Nicht nur Habeck glaubt, dass Scholz' Kandidatur für die Grünen nichts bedeutet. "Was soll das für die Grünen ändern?", fragt sein Vorgänger Cem Özdemir, sie hätten noch genug "zum Schaffen". Die Bundestagsabgeordnete Filiz Polat sieht das ähnlich: "Mit unserem Kurs der Eigenständigkeit und der Formulierung von Zukunftsthemen wird sich mit der Nominierung von Scholz für uns nichts ändern", sagt sie.

Kein Scholz-Effekt?

Die Grünen also geben sich überaus entspannt. Es ist mutig zu glauben, es hätte keinen Effekt auf die Stimmung im Land, wenn die SPD, die immerhin mal das war, was die Grünen erst noch werden wollen, nämlich Volkspartei, einen Kanzlerkandidaten aufstellen. Es zeigt: Die Grünen wollen die SPD nicht zur Gegnerin. Entweder sie glauben einfach nicht daran, dass Olaf Scholz die Kraft hat, die von selbstzerstörerischen Tendenzen geprägten Sozialdemokraten zu einen – oder aber sie wagen nicht, sich das auszumalen.

Denn Scholz kann gefährlich werden, das dürften eigentlich auch die Grünen wissen. Er ist nach Merkel der beliebteste Minister im Kabinett, seine Arbeit während der Coronakrise hat ihm Respekt eingebracht. Liberale Merkel-Wähler könnte er durchaus ansprechen, schließlich wirkt er ein wenig wie sie: Ruhig, besonnen, nicht durch besondere Leidenschaft ausgezeichnet. Das sind aber die Wähler, um die die Grünen kämpfen wollen.

Zudem könnte Scholz vielen Menschen den Schrecken vor einem rot-rot-grünen Bündnis nehmen – das einzige Bündnis, das derzeit als Alternative zu Schwarz-Grün denkbar scheint. Eine Fortsetzung der Groko will schließlich kaum jemand. Scholz könnte der ideale Mittler sein: Als Finanzminister hat er jahrelang an der schwarzen Null festgehalten, er wirkt nicht wie einer, der auf einmal Enteignungen propagieren oder die Verstaatlichung von Schlüsselindustrien fordern könnte.

Grüne wollen Wahlkampf mit der Union

Die grüne Parteispitze aber wünscht sich einen Wahlkampf, der sich auf Union und Grüne konzentriert. Auf der einen Seite die einzige übrig gebliebene Volkspartei, die mit der eigenen Erneuerung kämpft, auf der anderen Seite die Grünen, die junggeblieben, aber erwachsen geworden sind und nun endlich Verantwortung übernehmen wollen. Da passt die SPD nicht rein. Schon gar nicht mit dem Machtanspruch, den Scholz so selbstverständlich formuliert, obwohl seine Partei in Umfragen seit vielen Monaten hinter den Grünen landet.

"Wir haben einen Führungsanspruch für dieses Land", erklärt Habeck dann auch. Für Wahlkampf sei es "viel zu früh". Die Grünen wollen sich nicht treiben lassen. "Auf keinen Fall" werde man sich "unter Zugzwang setzen lassen". "Führen heißt aus eigener Überlegung, aus eigener Kraft, aus eigener strategischer Analyse heraus die richtigen Entscheidungen zu treffen", sagt er.

Das sieht Michael Kellner, politischer Geschäftsführer der Grünen, genauso: "Es ist doch klar: Jetzt ist nicht die Zeit für Wahlkampf", sagte er dem SPIEGEL. Die Pandemie, die Wirtschaftskrise, der Wirecard-Skandal, die Hitzewelle. "Das steht jetzt an, und keine vorzeitigen Personaldebatten."

Apropos Wirecard: Habeck vermeidet es während der Pressekonferenz tunlichst, Scholz wegen des Skandals anzugreifen – obwohl der Finanzminister Verantwortung für die Behörden trägt, die Wirecards Finanzen kontrollieren sollten. Auf keinen Fall will er den Eindruck erwecken, er selbst sei schon im Wahlkampfmodus.

Keine Personaldebatten

Ihre eigenen Personalentscheidungen sind offen: Die Kanzlerkandidatur soll – Stand jetzt – entweder Grünen-Chefin Annalena Baerbock oder ihr Co-Vorsitzender Habeck übernehmen. Entscheiden sollen das die beiden, der Partei wollen sie dann ein Ergebnis präsentieren. So jedenfalls wird es kolportiert. Offiziell aber will Habeck am Montag nicht einmal die Frage danach beantworten, ob die Grünen überhaupt einen Kanzlerkandidaten aufstellen wollen.

Sicher ist: Die Grünen wollen die Letzten sein, die eine Kandidatur aufs Kanzleramt verkünden, sie wollen so lange wie möglich abwarten. Zu groß ist die Angst offenbar nach wie vor, dass die SPD wieder an ihnen vorbeiziehen könnte, dass die Partei sich mit Führungsanspruch und Kanzlerkandidatur lächerlich machen könnte. Durchaus verständlich: Laut der jüngsten Umfrage von Infratest Dimap lagen die Grünen bei 18 Prozent – die SPD bei 15 Prozent. Drei Prozentpunkte ist kein uneinholbarer Vorsprung.

Bislang sei man gut damit gefahren, sich aus parteitaktischen Spielchen herauszuhalten, erklärt Habeck. "Alles weitere wird dann mitgeteilt werden, wenn es so weit ist, aber nicht ein Jahr vor der Wahl", sagt er.

War doch was?

Auch nicht äußern will er sich zu Koalitionsoptionen, obwohl SPD-Chefin Saskia Esken sich im ARD-Sommerinterview offen für ein Bündnis unter grüner Führung gezeigt hat. Für die Grünen könnten die Koalitionsoptionen noch problematisch werden: Vergleicht man die Parteiprogramme, sind die Grünen viel näher bei SPD und Linkspartei als bei CDU und FDP. Es gibt einen großen Teil der grünen Basis und viele Funktionäre, die sich einem Linksbündnis verbunden fühlen. Die Parteispitze aber hat nie großen Hehl aus ihrer Faszination für die Union gemacht. Seit Jahren wirkt es, als würden Habeck und Baerbock sich auf Schwarz-Grün vorbereiten, auch wenn keiner das je offen ausgesprochen hat.

Doch in der Partei gibt es noch immer prominente Stimmen, die auf Rot-Rot-Grün oder – noch lieber – Grün-Rot-Rot hoffen, und die die SPD weiterhin ernst nehmen. Der Parteigrande Jürgen Trittin sagt über Olaf Scholz' Kandidatur: "Die SPD macht damit klar: Sie will auch nach 2021 weiter regieren. Der Kampf um Platz 2 und die Führung im progressiven Lager ist damit eröffnet."

Klingt, als wäre an diesem Montag doch etwas passiert. Auch bei den Grünen.

Icon: Der Spiegel

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