Deutschlands Flüchtlingspolitik: Mut zum Alleingang – Kommentar

Demonstrierende in Frankfurt fordern die Evakuierung von Geflüchteten aus Lesbos
Foto: Boris Roessler / dpa
Die Migration ist so umstritten wie kaum ein anderes Politikfeld. In einem Punkt jedoch sind sich fast alle Lager einig: 2015 dürfe sich nicht wiederholen, heißt es von der CDU über die SPD bis hin zur Linken. Der Sommer, in dem mehrere Hunderttausend Flüchtlinge nach Deutschland kamen, wird heute vor allem mit Begriffen wie "Kontrollverlust" oder "Staatsversagen" assoziiert.
Es ist ein Erfolg der Rechten, diese Interpretation durchgesetzt zu haben. Es müsste nicht so sein.
2015 könnte auch als ein Moment verstanden werden, in dem viele Bürgerinnen und Bürger in Deutschland über sich hinausgewachsen sind, in dem sie sich entschieden, empathisch zu sein statt engherzig, ein Moment, der das Land, das kann man fünf Jahre später durchaus so festhalten, offener und vielfältiger gemacht hat.
Moria ist zu einem Symbol geworden
Stattdessen ist 2015 zu einem Instrument für all jene geworden, die Migration ohnehin schon immer verhindern wollten. Mit dem Mantra, 2015 dürfe sich nicht wiederholen, haben Regierungen in Europa Repressionen durchgesetzt, die lange Zeit undenkbar schienen.
Italien hat seine Häfen für Seenotretter geschlossen. In Libyen bezahlen die Europäer Milizen, die Migrantinnen und Migranten in Haftanstalten zu Tode foltern. Ungarn schottet sich mit einem Zaun gegen Schutzsuchende ab, Flüchtlinge, die das Land trotzdem erreichen, werden ausgehungert.
Dies ist das eigentliche Drama des Jahres 2015: dass sich die Europäer entschieden haben, Geflüchteten gegenüber offen zu begegnen, nur um den Kontinent danach umso härter abzuschotten.
Das Lager Moria auf der griechischen Insel Lesbos ist zum Symbol für diese Entwicklung geworden. Über Jahre hinweg wurden dort Schutzsuchende entrechtet, gedemütigt, entmenschlicht. Es ist traurig, dass sich die Europäer erst nach dem Brand vom 8. September für Moria zu interessieren begannen. Noch trauriger ist, dass sich an dem Elend auf Lesbos auch nach dieser Katastrophe kaum etwas ändern wird.
Zwar fordern Bürgerinnen und Bürger in verschiedenen europäischen Städten ihre Regierungen auf, Flüchtlinge aus Lesbos aufzunehmen. Die EU-Staaten aber setzen weiter auf Abschreckung. Moria soll, so will es die EU, möglichst schnell wieder aufgebaut werden, dann womöglich als Gefängnis. In der Zwischenzeit sollen die Flüchtlinge in einem provisorischen Zeltlager unterkommen.
In Griechenland, in Ungarn oder in Österreich muss diese Politik nicht mehr groß gerechtfertigt werden. Dort hat man sich nach Jahren des Rechtsrucks an Schikanen gegen Geflüchtete gewöhnt. In Deutschland begegnet die Bundesregierung Kritikern, die mehr Engagement einfordern, mit dem Hinweis, der deutscher Alleingang habe sich 2015 als Irrweg herausgestellt. Was es brauche, sei eine europäische Lösung.
Wer auf eine europäische Lösung pocht, will keine Lösung
Es ist ein wohlfeiles Argument. Wer auf eine europäische Lösung pocht, will in Wahrheit überhaupt keine Lösung, denn längst ist klar, dass sich die 27 EU-Staaten niemals auf eine gemeinsame Asylpolitik einigen werden.
Wenn aber eine Mehrheit der EU-Staaten einfach hinnimmt, dass eines ihrer Mitglieder Flüchtlingen jeglichen Schutz verwehrt, so wie das 2015 in Ungarn der Fall war und so wie es nun in Griechenland der Fall ist, dann ist ein nationaler Alleingang kein Irrweg – sondern eine Notwendigkeit.
Es war richtig von Bundeskanzlerin Angela Merkel, die Flüchtlinge aus Ungarn nach Deutschland zu holen. Genauso richtig wäre es heute, Flüchtlinge aus Lesbos zu evakuieren. Das Vorhaben der Bundesregierung, rund 1500 Flüchtlinge aus Lesbos aufzunehmen, ist ein erster, wichtiger Schritt. Eine Koalition der Willigen in der EU sollte jetzt überlegen, wie sie den Flüchtlingsschutz in Europa dauerhaft stärken will.
Eine der Lehren aus 2015, die zu wenig Beachtung gefunden hat, ist, dass es nicht nur auf die absoluten Zahlen an Asylsuchenden ankommt, sondern auch darauf, wie der Zuzug organisiert wird.
Die EU-Staaten haben über Jahre hinweg sämtliche legale Wege für Flüchtlinge nach Europa gekappt und sich dann gewundert, dass die Menschen auf irregulären Routen gekommen sind. Das Gefühl der Überforderung ist bei vielen Menschen in Europa unter anderem durch die Bilder von Flüchtlingstrecks entstanden, die unkontrolliert über den Balkan zogen. Das aber ließe sich verhindern.
Die EU könnte verstärkt in das Resettlement-Programm der Vereinten Nationen investieren, das Flüchtlinge aus Transitstaaten wie Jordanien oder dem Libanon in Länder wie Deutschland oder die Vereinigten Staaten vermittelt. Sie könnte in ihren Botschaften im Ausland auch selbst humanitäre Visa vergeben, was die Abhängigkeit der Flüchtlinge von Schleppern ebenfalls verringern würde.
Anders als 2015 verfügt Deutschland heute über die nötige Infrastruktur, um auch eine größere Zahl an Neuankömmlingen zu beherbergen. Es gibt überall im Land Erstaufnahmeeinrichtungen und Sprachschulen. Nicht umsonst sagten Dutzende Städte und Gemeinden nach dem Brand in Moria: Wir haben genügend Platz, Menschen aufzunehmen. Es ist Zeit, dass die Bundesregierung auf sie hört.
Icon: Der Spiegel