Corona-Maskenpflicht im Schul-Unterricht: “Die Schüchternen werden verschwinden”

Schulkinder auf dem Flur einer Schule in Münster
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Guido Kirchner / dpa
Nach mehr als sechs Wochen Sommerferien hat in Nordrhein-Westfalen das neue Schuljahr begonnen. Im bevölkerungsreichsten Bundesland gilt eine Maskenpflicht – nicht nur auf den Schulfluren oder auf dem Pausenhof wie in einigen anderen Bundesländern, sondern während des Unterrichts. In keinem anderen Bundesland sind die Vorgaben so strikt.
Aufgrund der hohen Temperaturen hatte die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) zuvor mehr Erholungspausen an den Schulen gefordert. Elternverbände hatten sich dafür ausgesprochen, dass die Schulen möglichst hitzefrei geben sollten. Das Bildungsministerium kam dem Wunsch teilweise nach und weitete die Hitzefrei-Regelungen angesichts der hohen Temperaturen und der Maskenpflicht auf Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe aus, wie die "Rheinische Post" berichtet.
Die Maßnahme ist zunächst bis Ende August befristet. NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) verteidigt die Maskenpflicht im Unterricht. "Wir müssen gerade in diesen Tagen besonders vorsichtig sein", sagte der CDU-Politiker. Welche Folgen hat die Maßnahme? Auf welche Herausforderungen im Unterricht müssen sich Lehrkräfte und Schüler einstellen? Einschätzungen von Sprechwissenschaftlerin Clara Luise Finke.
SPIEGEL: An diesem Mittwoch hat das neue Schuljahr in Nordrhein-Westfalen begonnen. Lehrer und Schüler müssen im Klassenzimmer und sogar bei brütender Hitze einen Mund-Nasen-Schutz tragen. Wie könnte das den Unterricht verändern?
Clara Luise Finke: Das wird extrem kräftezehrend sein – vor allem bei der Hitze. Bei Frischluftmangel und mit einer Maske vor dem Gesicht werden sich weder Lehrkräfte noch Schülerinnen und Schüler gut konzentrieren können. Daher ist es ganz wichtig, viele Pausen zu machen.
SPIEGEL: Inwieweit ist eine Maske noch kräftezehrend?
Finke: Schulkinder und LehrerInnen müssen mit der Maske noch deutlicher und lauter reden als ohnehin schon. Und wenn sie das mit der falschen Technik machen, können sie ihre Stimme schädigen. Deswegen ist es wichtiger denn je, die Stimme vor dem Unterricht zu erwärmen – so wie man es vor dem Singen tut.
SPIEGEL: Bei welchen Fächern ist es besonders problematisch, wenn Lehrer und Schüler eine Maske tragen müssen?
Finke: Das fängt schon beim Deutschunterricht in der Grundschule an. Wenn Lehrkräfte den Kindern das Buchstabieren beibringen, zeigen sie ihnen oft, was im Mund passiert, wenn sie die Buchstaben und Laute verbinden. Das geht mit Maske nicht. Auch das Fremdsprachenlernen wird schwieriger. Doch auch an Förderschulen und Inklusionsklassen wird die Kommunikation durch die Maske sehr stark eingeschränkt.
SPIEGEL: Wie können Lehrer dafür sorgen, dass die Schüler ihnen trotz Maske folgen?
Finke: Die Mimik ist ja teilweise verdeckt, deswegen ist es umso wichtiger, Blickkontakt zu halten und über die körperliche Präsenz für Aufmerksamkeit zu sorgen. Lehrkräfte müssen ihren Körper aufrichten. In dem Moment, wo sie zusammengesackt vor der Tafel stehen, verlieren Schülerinnen und Schüler den Anreiz, hinzugucken.
SPIEGEL: Lehrer müssen die ganze Zeit strammstehen und lauter reden als sonst. Wie sollen sie das bei der Hitze denn aushalten?
Finke: Im Idealfall könnten LehrerInnen im Team unterrichten, Kollegen könnten den Mehraufwand abfangen. Lehrkräfte könnten aber auch im Präsenzunterricht mehr Medien einsetzen. Natürlich brauchen die Lehrer dafür die entsprechende Technik und Methodenkompetenz.
SPIEGEL: Und es müsste genug Lehrer geben. Ist das aber nicht angesichts des Lehrermangels komplett unrealistisch?
Finke: Genau. Den Lehrermangel gibt es und es wird wohl schwer werden, im Team zu unterrichten.
SPIEGEL: Welche Schüler werden am meisten von der Maskenpflicht benachteiligt?
Finke: Vor allem für schüchterne Schüler könnte es schwer werden. Sie könnten im Unterricht weniger mitarbeiten, stiller werden. Die Schüchternen werden verschwinden.
SPIEGEL: Wie könnten Lehrer gegensteuern?
Finke: Lehrkräfte müssen diese Schüler besonders im Blick haben und sich immer wieder fragen, wie sie diese dazu bewegen können, mitzumachen. Sie müssen aktiv zuhören und auch immer wieder bei den Kindern nachfragen, ob sie die Inhalte verstanden haben. Sie könnten die Masken auch zum Thema machen und im Unterricht darüber diskutieren. Und um alle zu entlasten, könnten die Lehrer auch Handzeichen mit den Kindern vereinbaren oder mit Bildern von Emojis arbeiten, die die Schüler hochhalten könnten.
SPIEGEL: Nordrhein-Westfalens Bildungsministerin Yvonne Gebauer hat klargestellt, dass Lehrer nur im Ausnahmefall Visiere aus Plexiglas tragen dürfen, weil sie weniger schützen als Masken. Aber wären die Visiere nicht besser für den Unterricht geeignet?
Finke: Könnten die Lehrkräfte mit Visieren arbeiten, hätten die Kinder zumindest eine Chance, mehr wahrzunehmen. Guter Unterricht heißt, Vertrauen zu den Schülern aufbauen. Und das ist eine riesige Herausforderung, wenn das Gesicht verdeckt ist.