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Corona in Peru: Wie ein deutscher Arzt das Virus im Urwald bekämpft

August 02
07:10 2020
Die Tucunaré-Klinik am Río Chambira: den Fluss mit Stahlseilen blockiert Icon: vergrößern

Die Tucunaré-Klinik am Río Chambira: den Fluss mit Stahlseilen blockiert

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Dirk Albanus/ Freundeskreis Indianerhilfe e.V.

SPIEGEL: Herr Albanus, das Einzugsgebiet Ihrer Klinik ist groß: Es reicht fünf Stunden Bootsfahrt flussabwärts bis 16 Stunden flussaufwärts. Wie haben Sie den Indigenen, die dort leben, die Virusgefahr erklärt?

Albanus: Das lief über Funk, das ist das einzige Kommunikationsmittel. Es gibt morgens und abends feste Zeiten, zu denen die Urarina in ihren Dörfern am Funkgerät sitzen. Mithilfe unserer Übersetzer haben wir den Dorfvorstehern versucht zu erklären, was ein Virus ist und wie sie sich davor schützen können. Wir baten darum, die Information an die Dorfbewohner weiterzugeben.

SPIEGEL: Hat das funktioniert?

Albanus: Die Urarina haben ein anderes Krankheitsbild als wir. Sie glauben, dass Krankheiten von sozialem Fehlverhalten ausgelöst werden oder von einem bösen Fluch, den jemand anderes sendet. Sie sehen Krankheit als eine Art Strafe. Ein Beispiel: Die Urarina glauben an die Mutter des Walds. Wenn eine Frau ein Kind bekommt, darf der Vater in dieser Zeit nicht jagen oder Bäume fällen, weil die Mutter des Walds sonst böse wird und dem Neugeborenen eine Krankheit schicken kann.

SPIEGEL: Wie leben die Urarina?

Albanus: Ursprünglich lebten die Urarina als umherziehende Jäger und Sammler. Mittlerweile verteilen sie sich auf etwa 40 Dörfer, in denen zwischen 50 und 200 Personen leben. Es sind größere Familienverbände. Die Hütten aus Holz stehen auf Stelzen und sind mit Palmenblättern gedeckt. Sie sind offen und haben nur einen Boden, keine Wände. Man lebt offen und kriegt immer alles mit. Nachts werden Moskitonetze aufgespannt.

SPIEGEL: Ihnen war es besonders wichtig, dass das Virus gar nicht erst zu den Urarina kommt. Wie wollten Sie das verhindern?

Albanus: Wir haben darauf hingewirkt, dass die Indigenen an zwei Stellen Sperren im Fluss errichtet haben. Sie haben ein Stahlseil über den Fluss gespannt, an einer Stelle haben sie auch Baumstämme ins Wasser gelassen, damit die offizielle Quarantäne in Peru auch zu einer praktischen Isolation des Flussbeckens wird. Durch die Sperren wurden insbesondere die großen Boote der Flusshändler an der Durchfahrt gehindert.

SPIEGEL: Sie haben also versucht, das Virus auszusperren. Hat das funktioniert?

Albanus: Bis Anfang Juni ist den ganzen Tag kaum ein Boot an der Klinik vorbeigefahren, höchstens mal ein kleines Kanu. Aber heute wissen wir, dass das Virus dennoch bei uns angekommen ist. Die ersten Fälle oberer Atemwegsinfektionen sind Ende Juni aufgetreten, auch ich lag zwei Tage mit Fieber im Bett. Zum Zeitpunkt der Infektion konnten wir das noch nicht nachweisen, denn wir haben Antikörper-Schnelltests, die frühestens zwei Wochen nach der Infektion positiv werden und sich daher nicht für die Akutdiagnostik eignen. Jetzt wissen wir: Hier auf unserer Flussinsel haben alle schon Corona durchgemacht, ich auch. Erfreulicherweise hat es keine schweren Fälle gegeben.

SPIEGEL: Wie ist das Virus denn zu Ihnen gelangt, wenn doch der einzige Verkehrsweg, der Fluss, gesperrt war?

Albanus: Die Quarantäne in Peru wurde am 30. Juni offiziell beendet, da mussten die Indigenen den Fluss freigeben. Aber es gab auch vorher ein paar Schlaumeier, die den Fluss heruntergefahren sind, um im Dorf an der Mündung in den Río Marañon einkaufen zu gehen. Die Urarina mit ihren Kanus und kleinen Außenbordern waren noch mobil. Noch schlimmer war, dass der peruanische Staat den Armen – wenngleich in guter Absicht – eine finanzielle Unterstützung in bar ausgezahlt hat. Die Abholung fand zum Teil außerhalb unseres Flusses statt, in Dörfern mit offiziellen Corona-Fällen. Da gab es keine soziale Distanzierung oder andere Quarantänemaßnahmen. Der Versuch, sich abzuschotten, hat definitiv nicht funktioniert, das können wir heute sagen.

SPIEGEL: Besonders schlimm soll die Situation in der Provinzhauptstadt Iquitos sein.

Albanus: Die Infektionszahlen in Iquitos sind so hoch gewesen, dass dort jetzt mutmaßlich eine Durchseuchung von über 70 Prozent erreicht ist und damit Herdenimmunität herrscht. Die Quarantäne wurde in der gesamten Provinz aufgehoben, die Gegend wurde inoffiziell als hoffnungsloser Fall abgeschrieben. Jetzt rollt die Welle entlang der Flüsse in das Umland. Wir hatten eine kleine Chance, den Fluss dichtzumachen und so lange zu warten, bis der Sturm vorüber und das Virus nicht mehr präsent ist. Aber jetzt wird es sich hier verbreiten wie alle anderen größeren Infektionskrankheiten in der Vergangenheit auch.

SPIEGEL: Haben alle infizierten Indigenen in Ihrem Umfeld Symptome gezeigt?

Albanus: Wir leben hier mit mehreren Indigenen zusammen, die für die Klinik arbeiten, die haben wir alle getestet. Die Erwachsenen haben meist bis zu vier Tage Fieber gehabt und sich richtig krank gefühlt, so wie ich. Aber ihre Kinder waren häufig asymptomatisch.

SPIEGEL: Wie erklären Sie das?

Albanus: Wir hatten anfangs zwei Hypothesen: Entweder würde die Krankheit hier einen schwereren Verlauf nehmen als in Europa, weil die Immunsysteme der Indigenen nicht vorbereitet sind. Oder sie würde schwächer verlaufen, weil es so viele junge Menschen gibt.

SPIEGEL: Und zu welchem Schluss sind Sie gekommen?

Albanus: Heute denken wir, dass die Altersstruktur entscheidend ist, deshalb gibt es prozentual weniger schwere Fälle. Die Urarina sind sehr jung. Ich bin mit meinen 32 Jahren in einem Alter, wo man hier schon bald Großvater sein könnte. Es ist nicht unüblich, dass die Indigenen mit 15 ihre ersten Kinder bekommen. Es gibt hier sehr viele Kinder, aber sehr wenig alte Menschen. Dass Leute älter werden als 60 ist ungewöhnlich. In den nächsten Wochen wird sich zeigen, wie viele schwere Fälle es gibt. Bislang haben wir von keinem Todesfall gehört. Das wird sich mit Sicherheit irgendwann ändern. Vor allem in weit entfernten Dörfern bekommt man das oft nicht sofort mit. Manchmal erzählen uns die Indigenen auch nicht, wenn jemand gestorben ist. Sie empfinden Scham, weil sie den Patienten nicht zu uns gebracht haben.

SPIEGEL: Wären Sie denn für schwere Fälle gerüstet?

Albanus: Wir sind hier im Dschungel gut aufgestellt, vielleicht punktuell sogar besser als in den beiden Krankenhäusern in Iquitos. Dort gab es eine derart hohe Anzahl an Krankheitsfällen, dass eine geordnete Versorgung von Patienten aufgrund von Personal- und Materialmangel nicht möglich war. Notfälle wurden nicht mehr angenommen, nicht einmal ein Herzinfarkt. Die Sterblichkeitsrate war sehr hoch. Bekannte schickten uns Fotos, auf denen zu sehen war, wie die Leute in den Gängen gestapelt wurden. Die Versorgung mit Sauerstoff war nicht ausreichend, es gab keine Intensivbetten. Wir dagegen haben vor Kurzem einen Sauerstoffgenerator bekommen, den wir schon vor Corona bestellt hatten. Damit kann man Kleinkinder und Säuglinge, die schwere Lungenentzündungen haben, sehr gut behandeln. Wenn schwere Fälle auftreten, können wir ihnen Sauerstoff verabreichen, auch für schwere Corona-Fälle wird uns das helfen.

SPIEGEL: Tragen die Indigenen Schutzmasken und halten sie Abstand?

Albanus: Masken gibt es in den Dörfern überhaupt nicht. Es würde auch nicht funktionieren, da sie die Notwendigkeit von Masken nicht sehen würden. Selbst wenn sie sie trügen, gäben sie sich gegenseitig die Hände und griffen sich dann unter der Maske an die Nase, weil es juckt. Wir haben da selbst bei unseren Mitarbeitern Schwierigkeiten.

SPIEGEL: Woran liegt das?

Albanus: Sie hören zwar aufmerksam zu, wenn man das erklärt, verhalten sich dann hinterher aber so, als ob sie es nicht gehört hätten. Das ist in der ganzen Region so, nicht nur bei den Urarina. Es scheint ja selbst in Deutschland punktuell schwer vermittelbar zu sein, wie wir in den Medien sehen.

SPIEGEL: Verabreichen Sie auch Hydroxychloroquin gegen Covid-19?

Albanus: Peru hat in seiner Not verfügt, dass Corona mit Hydroxychloroquin und Azythromycin behandelt werden soll. Die internationale wissenschaftliche Gemeinschaft weiß, dass das nicht funktioniert. Hinzu kommt, dass es schwere Nebenwirkungen erzeugen kann. Wir benutzen es zur Behandlung der hier weit verbreiteten Malaria. Würden wir es für Corona verwenden, könnten wir die zahlreichen Malaria-Fälle nicht mehr behandeln, da es nicht für beides reicht.

SPIEGEL: Nehmen die Indigenen denn eigene Mittel?

Albanus: Unsere Medizin und die Naturheilkunde existieren nebeneinander. Häufig probieren die Indigenen zuerst ihre traditionelle Medizin aus. Es gibt Heilpflanzen, es gibt heilende Gesänge, und es gibt Saugungen, das ist sehr verbreitet. Wo es schmerzt, saugt der Schamane, um das Böse aus dem Körper zu holen. Wir haben es selbst noch nicht beobachtet, aber die Stellen sehen dann aus wie ein Knutschfleck; daher wissen wir, dass das geschieht. Wenn das nicht funktioniert, kommen die Patienten zu uns.

SPIEGEL: Wie wirkt sich die Coronakrise auf die soziale Lage der Indigenen aus? Gibt es mehr Armut, weil die Wirtschaft nicht läuft?

Albanus: Die Urarina waren vorher nominell arm und werden es auch nach Corona noch sein, doch das ist eine nicht vollständig treffende Beschreibung. In vielen Bereichen sind sie sehr reich, an Kultur und Freiheit zum Beispiel. Sie essen hauptsächlich, was sie selbst angebaut oder gejagt haben. Während der Quarantäne haben Seife und Gewehrpatronen gefehlt, die einzigen essenziellen Importgüter, denn mittlerweile wird nicht mehr mit dem Blasrohr und Pfeilgift gejagt wie früher. Vermutlich wurde also etwas weniger Fleisch gegessen. Unterernährung ist dennoch vor Corona wie aktuell weitverbreitet, vor allem bei kleinen Kindern. Gerade deshalb wird der Fokus unserer Arbeit für die nächsten eineinhalb Jahre auf der Mutter-Kind-Gesundheit liegen.

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