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Christian Lindner im Interview über die Krise der FDP, Corona und Linda Teuteberg

August 01
10:19 2020
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FDP-Chef Christian Lindner: "Es kommt auf unseren Einsatz an"

Foto: Christian Spicker/ imago images/Christian Spicker

SPIEGEL: Herr Lindner, bereitet Ihnen bei Umfragewerten zwischen fünf und sieben Prozent der Job als Parteichef noch Freude?

Lindner: Absolut. Der Gedanke der Freiheit kommt unter die Räder. Wir lassen Chancen für die Erneuerung unseres Landes liegen. Daran würde ich gerne etwas ändern. Im Übrigen lagen wir vor der letzten Wahl 2017 lange bei fünf Prozent, dann wurden es fast elf. Es kommt auf unseren Einsatz an.

SPIEGEL: Der damalige Aufschwung der FDP setzte gut fünf Monate vor der Wahl ein. Warum läuft es aktuell nicht besser?

Lindner: Natürlich wirkt Thüringen noch nach …

SPIEGEL: … Sie meinen die von Ihrem Parteifreund Thomas Kemmerich ausgelöste Regierungskrise, als er sich im Februar mit AfD-Stimmen zum Ministerpräsidenten wählen ließ …

Lindner: …was uns zur Klarstellung veranlasste, dass es mit uns kein Zusammenwirken mit der AfD gibt. Von der CDU in Ostdeutschland wünsche ich mir dieselbe Klarheit. Viele Menschen versammeln sich gerade hinter einem starken Staat. Den Einsatz für Bürgerrechte und für die Verhältnismäßigkeit der Freiheitseinschränkungen empfinden manche als störend. Auch wenn das nicht populär sein mag, stehen wir zu unseren Überzeugungen.

SPIEGEL: Verblasst möglicherweise auch der Glanz des Christian Lindner?

Lindner: Es geht nicht um mich, sondern darum, ob die Freien Demokraten in den Augen der Menschen etwas Gutes für das Land bewirken können. Die Führung einer Partei ist ein Auf und Ab.

SPIEGEL: Im September soll der Parteitag nachgeholt werden. Eigentlich stehen dort keine Gremienwahlen an, aber es halten sich Spekulationen, Generalsekretärin Linda Teuteberg solle vorzeitig abgelöst wird. Was ist da dran?

Lindner: An Personalspekulationen beteilige ich mich nicht. Alle Parteien sprechen derzeit über ihre Aufstellung zur Bundestagswahl. So werden auch wir uns in den nächsten Monaten mit unserem politischen Profil und unserem Team beschäftigen.

SPIEGEL: Hat Frau Teuteberg eine Jobgarantie bis zur regulären Parteitagswahl im Frühjahr 2021?

Lindner: Linda Teuteberg ist ein starker Teil unseres Teams. 2013 hat mir meine Partei zugetraut, ein Team aufzustellen und mit ihm einen Kurs zu definieren, der uns in den Bundestag zurückgebracht hat. Nun geht es um die Frage, ob mir meine Partei die Aufstellung eines Teams zutraut, mit dem wir uns angesichts einer drohenden Wirtschaftskrise um Regierungsverantwortung bewerben.

SPIEGEL: Der Wirecard-Skandal hat die Bundesregierung eingeholt, braucht es einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss?

Lindner: Ja. Das Vertrauen in den Finanzplatz Deutschland muss geschützt werden, wir haben eine Verantwortung vor den Anlegern, und die Defizite der staatlichen Finanzaufsicht müssen ausgeleuchtet werden. Ein Untersuchungsausschuss mit der Möglichkeit der Akteneinsicht und der Vernehmung von Zeugen ist das beste Mittel, um Vertrauen wiederherzustellen. Ich habe den Eindruck, dass Herr Scholz dort zur Kooperation bereit wäre.

SPIEGEL: Corona bleibt eine Herausforderung. Die deutsche Wirtschaft ist um mehr als zehn Prozent eingebrochen. Was tun?

Lindner: Wir brauchen eine politische Vorfahrtsregel für Arbeit. Einerseits muss unterlassen werden, was zu zusätzlichen Belastungen, Verunsicherungen oder Bürokratie führt. Andererseits müssen wir es erleichtern, neue Beschäftigung zu schaffen. Wir schlagen konkret vor, dass der Staat bei neuen Arbeitsplätzen die Sozialversicherungsbeiträge für die nächsten Monate aus Steuermitteln übernimmt. Das wäre ein Job-Turbo.

SPIEGEL: Wird der alte FDP-Schlager von den Steuersenkungen noch gespielt?

Lindner: Solange dort nichts passiert, werden sie den hören. Die letzte Steuerreform liegt 15 Jahre zurück. Die kleinen und mittleren Einkommen werden stark belastet, die Steuern für die Betriebe sind im internationalen Vergleich nicht mehr wettbewerbsfähig. Eine Reduzierung des Mittelstandsbauches wäre ein Investition in die Binnenkaufkraft und eine Frage der Fairness.

SPIEGEL: In der Fleischindustrie sollen nach einem Gesetzesvorschlag von SPD-Arbeitsminister Heil Werkverträge und Leiharbeit verboten sein. Gute Idee?

Lindner: Wir brauchen einen neuen gesellschaftlichen Aushandlungsprozess, wie wir mit Fleischkonsum umgehen. Wir müssen Tierwohl, Klimaschutz, Arbeitsbedingungen sowie die Freiheit von Konsumenten und Unternehmern neu abwägen. Kükenschreddern und Ferkelkastration ohne Betäubung zum Beispiel empfinde ich als unerträglich. Im Bereich des Arbeitsschutzes, der Unterkünfte, der Hygiene, des Transports und der Durchsetzung des Mindestlohns für die Beschäftigten in der Fleischindustrie muss es Verbesserungen geben. Aber der Gesetzentwurf von Herrn Heil ist in Wahrheit ein Schnellschuss, weil er notwendige Flexibilität und inakzeptable Ausbeuterei in einen Topf wirft. Das Vorhaben atmet den Geist des staatlichen Dirigismus.

SPIEGEL: Viele Eltern fragen sich, wie es nach den Ferien in den Schulen weitergeht. Was sind Ihre Erwartungen an die Kultusminister?

Lindner: Meine Sorge ist, dass sich die Bildungsarmut und die Spaltung der Gesellschaft weiter verschärfen. Wer Zugang zu digitalen Lernangeboten und Förderung zuhause hatte, war von Corona weniger betroffen. Das darf niemanden kalt lassen. Wir haben eine Schulpflicht für die Kinder und Jugendlichen, jetzt brauchen wir umgekehrt eine digitale Unterrichtspflicht für den Staat. Sollte ein regulärer Schulbetrieb nicht möglich sein, müssen digitale Alternativen bestehen. Statt der Mehrwertsteuersenkung hätten wir lieber alle Schulen ans Breitbandnetz anschließen, alle bedürftigen Schüler mit Endgeräten ausstatten, Weiterbildungsangebote und Systemadministratoren finanzieren sollen. Das müssen Bund, Länder und Kommunen in einer konzertieren Aktion jetzt angehen.

SPIEGEL: Machen die Menschen einen möglichen Lockdown im Herbst noch einmal mit?

Lindner: Wir alle können durch Verantwortung im Alltag das Risiko reduzieren. Die Politik ist zudem gefordert, einen zweiten Lockdown zu vermeiden. Es fehlen dazu vor allem eine Strategie für systematische Tests, damit Infektionsketten frühzeitig erkannt werden.

SPIEGEL: Nun soll es verpflichtende Tests für Rückkehrer aus Risikogebieten geben. Wer soll die Kosten übernehmen?

Lindner: Besser spät als nie. Ich hätte logisch gefunden, dass wer sich freiwillig als Tourist in ein Risikogebiet begibt, auch die Kosten eines solchen Tests übernimmt. Das ist eine Frage der Rücksichtnahme auf die Gesellschaft. Wenn die Regierung es anders sieht, ist das für mich keine ideologische Frage. Irgendwann aber stößt der Staat an seine finanzielle Grenze. Man kann nicht Schulden machen, als gäbe es kein Morgen. Ich rate also dazu, dass wir bald wieder zu einem sorgsamen Umgang mit öffentlichen Mitteln zurückkehren.

SPIEGEL: Muss Kanzlerin Merkel nach dem Urlaub wieder stärker mit dem Ministerpräsidenten die Lage koordinieren?

Lindner: Nach meinem Eindruck haben Länder und Kommunen inzwischen die Möglichkeiten, auf die Lage zu reagieren. Hygieneregeln im Alltag, verstärkte Kapazitäten im Gesundheitswesen und regionale Reaktionen auf vor Ort steigende Zahlen scheinen zu funktionieren.

SPIEGEL: Merkel hat mit Frankreich ein 750-Milliarden-Paket für die EU durchgebracht. Sie haben sich auf die Seite der "sparsamen Vier", angeführt durch die Niederlande, geschlagen. Wo bleibt da Ihre Vision einer gemeinsamen europäischen Haltung?

Lindner: Wir sind die Partei von Genscher und Lambsdorff. Wir wollen also ein vereintes Europa, aber keine Schuldenunion. In Deutschland haftet Bayern auch nicht für Bremen. Es ist richtig, dass es bei finanzieller Eigenverantwortung bleibt. Altbekannte Defizite sollten endlich angegangen werden statt sie mit frischem Geld zu überdenken. Die sparsamen Vier haben letztlich eine Rolle eingenommen, die mit Wolfgang Schäuble Deutschland hatte. Wir hoffen nun darauf, dass das Europäische Parlament die Frage der Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit verstärkt und im Finanzrahmen Mittel in Richtung Bildung, Digitales, Klimainnovationen und Schutz der Außengrenze verschiebt.

SPIEGEL: Das Paket bedarf der Zustimmung der nationalen Parlamente in der EU. Für den Wiederaufbaufonds könnte eine Zweidrittel-Mehrheit im Bundestag notwendig sein. Wie positioniert sich die FDP?

Lindner: Das entscheidet sich, wenn die Vorhaben konkret vorliegen. Bleibt es wirklich bei einer einmaligen und automatisch auslaufenden Möglichkeit der Europäischen Union, eigene Schulden aufzunehmen? Oder soll auf Dauer etwas verändert werden? Das werden wir uns sehr verantwortungsvoll ansehen.

SPIEGEL: Es gibt auch Überlegungen für eine EU-Steuer.

Lindner: Diese Ideen sind vage formuliert. EU-Steuern sehen wir skeptisch. Denn anders als in Deutschland könnten sich die Bürgerinnen und Bürger nicht direkt an der Wahlurne gegen finanzielle Überlastung wehren, sondern nur höchst indirekt. Steuerhoheit und demokratische Einflussnahme sollten aber eng zusammen bleiben.

Icon: Der Spiegel

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