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Amazon: So lässt sich der US-Konzern entmachten

August 09
22:19 2020
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Amazon-Paketbote (in New York)

Foto: SPENCER PLATT/ AFP

Vor Kurzem passierte mir etwas ziemlich Peinliches: Ich war tief in eine Recherche zu Schwarzarbeit im Umfeld von Amazon eingetaucht und hatte darüber ein wenig das Zeitgefühl verloren. Plötzlich fiel mir ein, dass ich vergessen hatte, für meinen Sohn ein Geschenk zu kaufen. Ich öffnete, ohne nachzudenken, die Amazon-App, scrollte die Angebote für 6-12-Jährige durch und bestellte einen Detektivkoffer, lieferbar zum Mittag des folgenden Tages.

Später wunderte ich mich über mich selbst. Wie kann man sich nur so widersprüchlich verhalten? Warum geht das überhaupt? Und was macht das mit uns und unserer Gesellschaft?

Es gibt offenbar recht viele Menschen, die sich ab und zu so benehmen wie ich:

  • Es gibt Einzelhändler, die dank Amazon ihren Absatz vervielfacht haben – und sich gleichzeitig in Medien darüber auslassen, wie sehr sie sich von dem Konzern ausgequetscht fühlen.

  • Es gibt Kunden, die sich über die Verödung der Innenstädte oder Amazons fragwürdige Steuersparmethoden empören – und das neue Scartkabel dann doch schnell bei Amazon Prime bestellen.

  • Und bei der eingangs erwähnten Recherche traf ich einen Paketboten, der sich über unseriöse Subfirmen von Amazon aufregte und von diesen gleichzeitig Schwarzgeld kassierte.

Psychologen sprechen in solchen Fällen von kognitiver Dissonanz: einem scheinbar unauflösbaren Widerspruch, der meist mit quälenden Gefühlen einhergeht, zum Beispiel mit Scham oder Schuld. Ein beliebter psychischer Abwehrmechanismus gegen solche Emotionen ist die sogenannte Rationalisierung: Man rechtfertigt das eigene, oft als unmoralisch empfundene Verhalten mit rational wirkenden Beweggründen.

Manche Einzelhändler sagen: Sie hätten keine Wahl; an Amazon führe nun mal kein Weg vorbei. Manche Kunden sagen, ihre paar Bestellungen fielen doch kaum ins Gewicht, es brauche politische Lösungen gegen Mitarbeiterausbeutung oder Innenstadtverödung. Der Paketbote sagte, er habe für sein Schwarzgeld doch hart gearbeitet.

All das ist anteilig wahr. Das Problem ist nur: Wir neigen dazu, mit solchen Teilwahrheiten andere, weniger schmeichelhafte Teilwahrheiten vor uns selbst und anderen zu verstecken. Motive wie Profitstreben, Trägheit oder persönliche Vorteilnahme zum Beispiel.

Das funktioniert nicht nur bei Amazon. Auch beim klimaschädlichen Fliegen, beim Rauchen, beim Fleischkonsum oder bei irgendeiner anderen Verhaltensweise, die einem selbst und/oder der Allgemeinheit schadet, rationalisieren wir. Mittlerweile müssen wir nicht einmal mehr eigene Ausflüchte erfinden. Es gibt Maschinen, die uns das abnehmen – zum Beispiel Amazons intelligenter Lautsprecher Alexa.

Rationalisierungen sind also gesellschaftlich durchaus anerkannt. Hilfreich sind sie trotzdem nicht. Denn sie verhindern, dass wir uns mit unseren Scham- und Schuldgefühlen auseinandersetzen. Dass wir also genauer ergründen, welche Verhaltensweisen welchen persönlichen Werten widersprechen. Und dann differenziert entscheiden, an welchen Stellen wir unser Handeln verfeinern – und an welchen Stellen wir die Ansprüche an uns selbst herunterschrauben.

Ich persönlich habe mich nach meinem Detektivkoffer-Malheur für folgenden Umgang mit Amazon entschieden: Ich werde dort nur noch vergriffene Bücher und seltene Ersatzteile bestellen. Alles andere nicht mehr. Denn der Konzern scheint mir die Gesellschaft momentan viel mehr zu belasten als zu bereichern. Besonders deutlich zeigt sich das in der Zustellerbranche.

Ex-Ver.di-Chef Frank Bsirske hat den deutschen Logistiksektor einmal als teils "mafiös" bezeichnet, weil Firmen regelmäßig Schwarzarbeit und Ausbeutung von Mitarbeitern nachgewiesen werden. Amazon mag solch illegale Praktiken ablehnen. Doch als weltgrößter Logistiker stößt der Konzern zwangsläufig Prozesse an, die die Schieflage der Branche verschärfen.

Amazons hohe Ansprüche an den Kundenservice setzen weitgehend den Branchenstandard. Und der besagt: Pakete müssen immer schneller und günstiger zum Empfänger kommen. Personalaufwand und Kostendruck verschärfen sich dadurch. Um im Wettbewerb noch mitzuhalten, greifen Logistiker teils auf unseriöse Subfirmen zurück.

Es ist Aufgabe des Staates, das mit Gesetzen, Kontrollen und Strafen zu unterbinden. Zumindest was die Gesetze angeht, hat der Staat bereits vernünftige Regeln erlassen. Doch der Paketboom, den Amazon mit ausgelöst hat, trägt dazu bei, dass die Politik bei der Durchsetzung dieser Regeln an ihre Grenzen stößt.

Das rasch wachsende Geflecht aus Zehntausenden Kleinstfirmen lässt sich kaum umfassend kontrollieren – selbst dann nicht, wenn die Zahl der zuständigen Zollbeamten, wie geplant, in den kommenden Jahren deutlich steigt. Es wäre also falsch, sich hier nur auf den Staat zu verlassen.

Nachhaltig eindämmen lässt sich solch Wildwuchs wohl nur, wenn auch die Gesellschaft aktiver wird. Wenn mehr Kunden es als Qualitätskriterium ansähen, Pakete von steuerzahlenden, fair entlohnten Boten geliefert zu bekommen – und die Zusteller andernfalls sanktionierten.

Bislang scheint nur ein kleiner Teil der Gesellschaft sozial verantwortungsvoll zu konsumieren. Sollte sich irgendwann eine kritische Masse so benehmen, würden Amazon und seine Zustellerpartner wohl in eine sozial verträglichere Rolle gezwungen. Der US-Konzern würde ein Stück weit entmachtet.

Ich für meinen Teil habe beschlossen, das zu unterstützen. Sollte ich irgendwann den Eindruck gewinnen, dass Amazon die Gesellschaft stärker bereichert als belastet, werde ich dort gern wieder mehr einkaufen.

Icon: Der Spiegel

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